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Film zu benutzen ?
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Producer wanted !
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Kapitel: |
2. Kapitel
Bei Petes Frage, ob sie ihm seine Geschichte nicht abnehmen würde, muß Helen lächeln. „Wenn der wüßte“, denkt sie und beruhigt ihn gleichzeitig, indem sie ihm zunickt und ihm mit großen Augen versichert: „Doch doch, ich verstehe Dich gut. Sehr gut sogar. Für mich ist der Innnsbruck White Christmas auch etwas ganz besonderes, mit dem ich vielerlei Erinnerungen verbinde. Aber Entschuldigung bitte. Ich muß kurz mal wohin, Du verstehst, für kleine Mädchen.“
Patrik verstaut im Hummer Lindas Limo-Flasche, denn diese ist noch halbvoll.
Dann hantiert er am Display des Navigationssystems herum, aber irgendwie
will er von dessen Angaben heute nichts Konkretes lesen und hören.
Sein Griff zum Radioknopf ist verbunden mit einem kurzen Druck auf das
CD-Teil, das seit einigen Minuten geschwiegen hat und ihm nun erneut „Tonight,
let’ s stau“ um die Ohren dröhnt. Patrik vermindert die Lautstärke,
würde aber selbst dann noch etwas hören, wenn er schwer taub
wäre. „Strong“, beurteilt der Outlaw seine Auswahl in jeglicher Beziehung.
Linda ist derweil damit beschäftigt, ihren Autoschlüssel
in ihrer kleinen Handtasche zu verstauen und ihr Outfit einer Überholung
zu unterziehen. Sie hat den Make-up-Spiegel heruntergeklappt und legt Rouge
auf. Dann fährt sie sich durch die Haare, überprüft noch
einmal mit einem kurzen Blick ihr Aussehen und schiebt den Spiegel wieder
in seine Ausgangsposition zurück. „Alles klar, es kann losgehen. Willst
Du nicht einmal reinhören, Patrik, was auf den Straßen
los ist?“
Der Outlaw will das nicht, schüttelt den Kopf: „Das geht auch
so, warum sollen wir hetzen. Du hast das doch selbst gesagt. Jetzt fahren
wir einfach mal drauflos. Strong siehst du aus, Linda., real strong“
„Wirklich? Hauptsache ich gefalle Dir. Aber Du hast recht. Heute gefalle
ich mir auch. Fahr`vorsichtig, gell.“
Helen ist aufgestanden, schaut sich kurz im Abteil um und entschwindet
dann Petes Blicken über den Gang zur Toilette. Der Kameramann ertappt
sich bei dem Gedanken, daß er Helens Weggang am liebsten im Bild
festgehalten hätte. Zum ersten Mal hat er sie bewußt in voller
Größe gesehen. „Sie ist noch schlanker als ich dachte“, stellt
er fest und kann sich sich seine Bewunderung über ihre langen Beine,
die zuvor unter dem Tisch verborgen gewesen waren, nicht verkneifen.
„Ganz in Schwarz“, auch das Kostüm und der enganliegende dunkle
Pullover darunter gefallen ihm. Ihre blonden Haare, die dunkelbraunen Augen,
ihr Gang, ihm wird bewußt, daß ihn eigentlich alles an ihr
fasziniert. Pete hat ein Gefühl, das ihm bisher fremd gewesen war,
zumindest in dieser beeindruckenden Art hat er es noch nie zuvor erlebt.
Patrik hat den Parkplatz bereits hinter sich und steuert den Hummer
auf der rechten Fahrspur in Richtung Aichelberg. Dort beginnt der Albaufstieg.
Mit gemächlichem Tempo zuckelt der Acht-Zylinder dahin, und vor ihm,
hinter ihm und seitlich von ihm herrscht beträchtlicher Verkehr. Es
ist heiß, und die Sonne scheint stärker zu strahlen denn je.
Linda hat sich ihrer Lederjacke entledigt und es sich in ihrem saloppen
Top bequem gemacht. Patrik schwitzt, obwohl er nur ein dunkles Hemd und
Jeans trägt.
„Du, paß’ auf“, warnt Linda ihren Patrik, denn vor ihnen scheint
sich ein Stau anzubahnen. Die Schlange der vielen Fahrzeuge in Richtung
Albaufstieg hat sich zwischenzeitlich von Durchschnittstempo 95 auf etwa
50 Stundenkilometer heruntergebremst, und nun wird`s noch langsamer: 40,
30, 20, 10, null, und zusammen mit den anderen Autos steht auch der Hummer.
„Weilheim/Teck“ verkündet ein Schild neben der Autobahn, und in einiger
Entfernung sind unzählige Autos zu sehen, die sich den Berg hinauf
stauen.
„Was machen wir?“, fragt Linda. „Fahren wir ab und Landstraße?“.
Patrik schaut zu ihr hinüber , beugt sich zu ihr hin und küßt
sie. „Laß` man, das geht da auch kaum schneller. Wir haben ja Zeit.
Warten wir`s ab. Irgendwann geht es schon weiter.“
Helen ist zu ihrem Platz gegenüber Pete zurückgekehrt. Ihm
kommt es so vor, als sei sie noch schöner geworden. Sie registriert
seine Blicke und wird darin bestätigt, daß es richtig von ihr
war, sich in den Sanitärräumen noch einmal zurechtgemacht zu
haben. Das Rot auf ihren Lippen wirkt roter denn je, und ihr glänzendes
Haar, das bis in den Nacken reicht, umschmeichelt ihr hübsches Gesicht.
Sie schaut Pete tief in die Augen, während sie sich setzt, und der
30jährige erwidert diesen Blick, der gleichzeitig Spannung auflöst
und neue Spannung aufbaut.
„Ich hoffe, ich war nicht zu lange weg“, mit diesen Worten eröffnet
Helen das Gespräch, und Pete sagt grinsend nichts, während sie
fortfährt: „Wenn ich an vorhin anschließen darf. Falls es Dich
interessiert, aber vom Innsbruck White Christmas könnte ich eine besondere
Geschichte erzählen. Soll ich?“
Pete, der Helen gegenüber seine innere Erregung kaum verbergen
kann, obwohl er nach außen hin den Coolen mimt, freut sich über
Helens Angebot, und sie beginnt zu sprudeln: „Ich bin Reporterin, weißt
du. Ich hatte den Auftrag von Antenne Radio Dresden, allgemein über
den Insbruck White Christmas und speziell über den Wedding Day zu
berichten.
Damals war ich mit meinem Citroe’’n Mini-Mobil eingekurvt und hatte
es mir zuerst in der Koje mit zwei Schlafplätzen in dem Aufstelldach
bequem gemacht. Ich fahre bei solchen Gelegenheiten stets dieses Vehikel,
weil ich damit unheimlich flexibel bin und überall hinkomme, wo andere
längst keinen Platz mehr haben. Das ist unwahrscheinlich praktisch,
wenn auch manchmal anstrengend. Aber was soll’s. Für meine Zwecke
ist das Fahrzeug ideal.
Kurz und gut: Ich stand da, und neben mir hatte sich ein zwar alter,
aber immer noch überaus kommoder TSL Georgie Boy Maverick aufgebaut.
Weißt Du, das ist so ein Riesenteil auf einem Ford-E 406-Chassis
mit 7,3 Turbodieselmotor und 210 PS; natürlich mit allem Drum und
Dran. Solche Apparate haben früher mal über 150.000 Mark gekostet.
Das ist auch in Euro heute eine Menge Geld.
Also, kannst Du Dir die Szene vorstellen? Um mich herum überall
ein Riesengetümmel, und links von mir dieses besagte Technikwunder.
Nach rechts zu wurde in einer Modeschau die neueste Kollektion an allem
gezeigt, was man im Winter so braucht.“
Helen sprach dabei so schnell und voller Engagement, daß sie
kaum Zeit zum Luftholen hatte. Entsprechend mußte sie wenigstens
ihren Gaumen wieder einmal befeuchten, und sie nahm deshalb einen Schluck
aus ihrer Kaffee-Tasse. Für Pete eine Gelegenheit, es ihr nachzutun.
Sie lächelten sich dabei gegenseitig an.
Patrik und Linda-Lady leiden derweil auf der Autobahn in ihrem Hummer. Ein ungeplanter Stau in dieser Form ist noch immer ein Übel, über das mehr geflucht wird denn je. Die Hitze im Fahrzeug martert dermaßern, daß dabei selbst abgeklärte Philosophen zu wilden Bestien werden könnten. Nur: Patrik und Linda nehmen das Schicksal trotz aller Widrigkeiten noch immer gelassen hin. Seit 20 Minuten parken sie bereits, und ein Ende des Staus deutet sich nicht an. Im Gegenteil: Die Leute um sie herum steigen aus ihren Fahrzeugen zum Teil aus, bauen Tische und Stühle auf und machen es sich bei einer spontanen Autobahnrast bequem. Das ist Lebensart: man kann auch in einer solchen Situation etwas Gutes daraus machen. Sofern man Zeit hat. Und Linda und Patrik verspüren noch keinen Drang zur Eile. Sie warten ab.
Helen hat ihren Bericht inzwischen fortgesetzt. Pete ist hin- und hergerissen
von ihrer lebendigen Erzählweise. Was er zu hören bekommt, das
kennt er aus eigener Erfahrung zwar auch zum Teil, aber derart intensiv
ist er mit diesem Thema noch nicht konfrontiert worden.
Die Sache mit den Hochzeiten zum Beispiel: Pete selbst hat auch schon
bei Wedding Days im Rahmen von Stau-Treffs gefilmt, aber Einzelheiten,
wie Helen sie nun schildert, hat er bislang noch nicht wahrgenommen.
Der Wedding Day beim Innsbruck White Christmas ist schon seit einigen
Jahren zum größten Heiratsmarkt der Welt geworden. Es gibt kaum
noch Kirchen und Konfessionen, die dabei außen vor bleiben wollen.
Aus der Idee eines katholischen Pfarrers, bei einem Stau-Event einmal ein
Paar zu trauen, ist eine weltweite Bewegung geworden. Ja, es gibt sogar
Stimmen, die behaupten, daß Millionen von Menschen sich jährlich
nur deshalb ins Innsbrucker Stau-Geschehen einklicken, weil sie sehen möchten,
wer sich aus aller Welt dort trauen läßt.
Schnelltrauungen, wie sie vor der Jahrhundertwende allenfalls aus den
USA oder aus Schottland bekannt waren, sind jetzt bei Stau-Treffs in. Wer
auf sich hält und dabei etwas erleben möchte, der/die ehelicht
im Stau.
Das Witzige daran ist, daß sagenhaft viele Menschen davon Vorteile
und das erkannt haben. Die Paare brauchen niemanden einzuladen und haben
dennoch zusammen mit anderen eine Hochzeitsgesellschaft, die größer
kaum sein kann. Wer vor Ort ist, erlebt das Geschehen live, wer nicht dabei
sein kann oder dabei sein will, kann das Ereignis im Fernsehen, im Radio
oder über käufliche Videos mitverfolgen.
Das potentielle Hochzeitspaar kündigt seinen Wunsch, sich in einem
bestimmten Stau-Treff trauen zu lassen, per Klick über das Internet
an, und ansonsten wird nach einigen weiteren Vorwegmaßnahmen alles
weitere an Ort und Stelle erledigt.
Vom Hochzeitkleid bis hin zu den Hochzeitsschuhen und dem Hochzeitsstrauß
ist bei den Events alles in großer Auswahl zu kaufen. Sämtlichen
Nationalitäten werden Angebote gemacht. Die Inderin wird genauso zufriedengestellt
wie eine Europäerin oder eine Vertreterin aus Afrika, China, Japan
oder Australien, um nur einige Beispiele anzuführen.
Und was für Frauen gilt, das bezieht sich auch auf Männer.
Es gibt vor Ort alles zu kaufen, was zur Hochzeit nötig scheint und
was die Menschen als erstrebenswert erachten, was sie sich leisten können.
Vom günstigen Anzug bis hin zum teuersten Smoking reicht die Palette
an Ständen und fahrbaren Geschäften sowie bei fliegenden Händlern.
Das Besondere ist jedes Mal auch die Vielfalt, die die verschiedenen
Hochzeitspaare bilden. Das internationale Bild ist unbeschreiblich;so etwas
muß man einfach selbst gesehen haben. Ob Mongolen, Afrikaner, Indianer,
Eskimos oder Ureinwohner von Australien, sie alle und viele Menschen bilden
bei den Wedding Days ein Gesamtkunstwerk, das in dieser Form nirgendwo
auf der Welt wiederzufinden ist.
Die Faszination, die diese Events spiegeln, hat ursprünglich keiner
vorausgesehen. Nicht einmal die kirchlichen Vertreter selbst haben im mindesten
erahnt, was auf sie zukommt. Ganze Scharen von Psychologen sind seit Jahren
damit beschäftigt, herauszufinden, was den Heirats-Boom in dieser
Form ausgelöst und was das ganz Besondere in letzter Konsequenz ausmacht.
Ist es die Vielfalt, sind es die Beispiele anderer, die nachgeahmt
werden und zur Nachahmung anregen, oder ist es die Publizität, die
solche Events begleiten? Warum wollen die Menschen aus allen möglichen
Ländern und Erdteilen gerade bei Stau-Treffs heiraten?
Für Patrik und Linda-Lady ist eine Antwort darauf im Moment keine
Frage. „Ganz schön ätzend“, hat der Outlaw gerade festgestelt
und sich über die schweißnasse Stirn gerieben, nachdem er seine
beschlagene Sonnenbrille gereinigt und wieder aufgesetzt hatte.
Linda-Lady registriert, daß der Stau offenbar noch länger
andauern wird. Denn über das Radio hat sie zwischenzeitlich erfahren,
daß es vor Ulm auf der Autobahn einen gewaltigen Unfall gegeben haben
soll. Und der Stau erstrecke sich nun schon über einhundert Kilometer
Länge. Mindestens 60 Autos seien in das Unfallgeschehen verwickelt.
Von mehreren Toten und vielen Verletzten war im Bericht die Rede. Überall
seien die Straßen verstopft. Die Verkehrsmengen könnten im Bereich
zwischen Stuttgart und Ulm nicht mehr flüssig gehalten.werden.
„Du Patrik“, fragt Linda, „was meinst du, Jesus wird doch hoffentlich
nicht in den Unfall verstrickt sein. Oder?“
„Nein, glaube ich nicht.“ Der Outlaw ist in der Hinsicht zuversichtlich.
„Denn so weit kann Jesus in der verhältnismäßig kurzen
Zeit mit seinem Truck nicht gekommen sein.“ Patrik rechnet nach: „Eine
Viertelstunde ist er vor uns weggefahren. Oder war es eine halbe
Stunde? Wenn es eine halbe Stunde gewesen ist, dann könnte es vielleicht
sein. Aber nein, in 30 Minuten ist die Strecke bis Ulm in einem Truck bei
diesen Verkehrsverhältnissen nicht zu schaffen. nein, ich glaube nicht,
daß er soweit vorangekommen ist.“
„Hoffentlich“, erwidert Linda, die eine innere Unruhe in sich verspürt.
Ihre Furcht, daß Jesus etwas passiert sein könnte, wird verstärkt
durch mehrere Hubschrauber, die seit einiger Zeit über sie hinwegdonnern
und eindeutig in Richtung Ulm fliegen. Polizeihubschrauber sind darunter
ebenso vertreten wie Hubschrauber von Rettungsdiensten, die offenbar ihre
Kräfte von überall her zum Unfallgeschehen schicken.
„Schalte doch das Radio ab“, meint Patrik, „denn Du machst Dich doch
sonst nur verrückt mit Deinen Gedanken.“
„Ja, das sagst Du so“, wendet Linda ein, „aber ich kann jetzt nicht
einfach abschalten. Zumindest nicht meine Gedanken. Das wäre doch
furchtbar, wenn mit Jesus etwas wäre.“
„Sicher, klar. Du hast schon recht. Aber ändern könntest
Du daran auch nichts. Wir müssen das abwarten.“ Patrik möchte
Linda mit diesen Worten beruhigen, erreicht aber das Gegenteil damit.
Währenddessen rast der Schnellzug mit Helen und Pete weiter unbehindert
in Richtung München, und Helen ist ganz in ihrem Element, erzählt
im wohltemperierten Abteil heißblütig vom damals besonders kalten
Innsbruck White Christmas, wettermäßig gesehen: „Du mußt
Dir das vorstellen, Pete. Wir hatten schon vor Weihnachten Temperaturen,
die ganz und gar aus dem Rahmen des Üblichen fielen. Normalerweise
ist ein Wetter weit unter null Grad in der Zeit zwischen Weihnachten und
Silvester eine Ausnahme, aber das in dem Jahr war sensationell; wir hatten
Temperaturen von bis zu minus zwölf Grad Celsius gehabt, aber was
dann beim Stau-Treff auf uns zukam, das übertraf alles Dagewesene.
Wir standen kurz vor dem Brenner, und das Thermometer fiel an Heiligabend
auf 15 Grad minus herab. Am ersten Weihnachtstag sollte der Wedding Day
beginnen und sich bis auf den zweiten Weihnachtstag erstrecken.
In der Nacht von Heiligabend auf den ersten Weihnachtstag wurde es
schon bitterkalt. Da erschienen uns 15 Grad minus noch als warm. Denn die
Temperatur fiel auf 18 Grad ab, und ob Du es glaubst oder nicht. Aber am
ersten Weihnachtstag morgens konnte ich am Außen-Thermometer sage
und schreibe 17 Grad minus ablesen. So etwas habe ich in dem Bereich überhaupt
noch nicht erlebt gehabt.“
Pete ist beeindruckt: „Und dann?“
„Sag doch jetzt nicht so etwas Dummes“, ist Linda verärgert. „Wenn
ich mir Sorgen um Jesus mache, dann mußt Du nicht erzählen,
daß ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich weiß selbst,
daß ich nichts ändern könnte. Aber ich mag Jesus, und deshalb
mache ich mir auch Gedanken um ihn. Ob Dir das paßt oder nicht.“
Patrik weiß nicht, was er darauf antworten könnte oder antworten
sollte. Also schweigt er erst einmal. Und das ärgert Linda noch mehr:
„Warum sagst Du denn jetzt nichts?. Ich habe doch recht. Jesus könnte
sehr wohl etwas passiert sein.“
„Gut, ja Du hast recht,“ gibt Patrik zu. „Theoretisch könnte das
sein. Aber praktisch wohl kaum, mehr wollte ich nicht sagen.“
„Und warum machst Du Dir keine Sorgen um Jesus“, fragt Linda zurück.
Patrik hat Not, Worte darauf zu finden.
Der Outlaw versichert Linda in aller Form und in ganz ruhigen Worten,
daß er sich ebenfalls Sorgen um Jesus machen würde: „Ich mag
ihn auch. Aber glaube mir. Ihm ist nichts passiert, das habe ich im Gefühl.
Der steht vielleicht noch oben am Drackensteiner Hang oder etwas weiter
auf der Autobahn, aber keinesfalls schon vor Ulm.“
Linda scheint von diesen Worten beruhigt zu sein und gleitet in Erinnerungen
ab: „Weißt Du noch Patrik, als wir gemeinsam beim Milano-Septembre
waren. Jesus hat damals phantastisch auf der Gitarre gespielt. So schöne
Nächte habe ich in meinem Leben nur wenige erlebt.“
„Meinst Du das wirklich“, fragt Patrik, dabei spitzbübisch lächelnd.
„Also“, Linda-Lady wirft ihm einen strafenden Blick zu. „Sicher meine
ich, was ich sage. Aber nicht so, wie Du das meinst. Ich meine, was ich
denke.“
„Also“, berichtet Helen im Zug weiter, „meine Sendung lief ab 11.30
Uhr an dem Tag, und ich sollte sowohl über das allgemeine Hochzeitsgeschehen
als auch anhand eines einzigen Paares Highlights für die Hörer
setzen. Als ich aufwachte, war es schon kalt wie in einem Kühlschrank,
obwohl ich meine Heizung voll aufgedreht hatte.“ Pete ist amüsiert
und unterbricht sie: „Kalt wie im Kühlschrank. Das kann wohl nicht
sein. Hast Du schon mal 17 Grad Kälte im Kühlschrank gehabt?“
Helen ist über die Frage irritiert: „Was soll das? Unterbrich
mich nicht. Ich verliere sonst den Faden. Was hat denn ein Kühlschrank
mit der Kälte beim Stau zu tun? Wie kommst Du auf so eine Frage? Im
übrigen ist es mir egal, wieviel Minusgrade ein Kühlschrank hat.
Ich glaube, in Kühlschränken herrschen allgemein sogar Plusgrade.
Aber das ist jetzt völlig egal. Wo war ich stehengeblieben?“
„Du hattest 17 Grad Kälte im Zelt. Oder war es im Auto direkt?“
Mit dieser Frage hilft Pete seiner Gegenüber auf die Erzähl-Sprünge.
Und Helen knüpft daran an: „Richtig, tatsächlich, auch Dein
Einwand ist berechtigt. Ich konnte selbstverständlich nicht im Zelt
schlafen. Das hatte ich ja schon vorher gewußt und auch berücksichtigt.
Bei solcher Kälte muß man aufpassen, daß man nicht erfriert.
Ich hatte mich schon vor Heiligabend ganz dick angezogen und in meinen
Wagen zurückgezogen. Zum Glück liefen die starke Standheizung
und ein weiteres Zusatzgerät über Strom prächtig, sonst
hätte ich ganz schön alt ausgesehen. Aber kalt war es trotzdem,
und ich konnte kaum schlafen, da im Wagen überall Gepäck im Wege
lag.
Am ersten Weihnachtstag war es ähnlich, nur noch eisiger. Ich
hatte entsprechend kaum ein Auge zugemacht, und morgens war ich noch hundemüde.
Weil es so kalt und ich unausgeschlafen war, habe ich regelrecht gefroren;
schon als ich nur von innen nach außen aus dem Fenster geschaut habe,
ohne daß ich etwas geöffnet hatte.“
„Nun übertreibst Du aber, wendet Pete ein. „Oder?“
„Ich übertreibe nicht“, behauptet Helen im Zug gegenüber
Pete. „Es war wirklich böse kalt. Wenn ich das vorher gewußt
hätte, daß es in dem Jahr so kalt werden würde, hätte
ich mich beim Radio gar nicht um den Job beworben. Aber zum Glück
weiß man ja vorher nie, was hinterher geschieht.
Zurück zu meinem Erlebnis: Also, ich wachte auf und fror. Meine
Haare waren völlig durcheinander und klebten. Meine Kleidung war ganz
und gar zerknittert und hing mir geradezu am Leib, Alles im Fahrzeug war
verknittert und verlegen, und irgendwie roch es muffig. Das war wohl die
Kälte, denn ich hatte wie üblich am Abend gebadet und nur frische
Kleidung und sonstige Sachen dabei.
Sei’s drum: Ich kam mir an dem Morgen wie meine eigene Großmutter
vor. Aber wenig später hatte ich Sendung. Der Gedanke daran lenkte
mich ab, und da ich nicht zu frühstücken brauchte, da es nahebei
in einem Großraumwagen für die Stauteilnehmer aus den umstehenden
Fahrzeugen alle einen Brunch gab, machte ich sozusagen nur Katzenwäsche
und begab mich auf die Route dorthin. Tatsächlich, jetzt habe ich
allerdings wirklich übertrieben. Zu meiner großen Schande, verzeih
mir, aber ich war damals wirklich ein Ferkel. Ich muß gestehen, daß
ich mich morgens überhaupt nicht gewaschen habe; erst später
in der Raststätte. Es war einfach zu kalt. Auch die Zähne habe
ich mir erst später noch geputzt. Nach dem Aufstehen habe ich mir
nur die Haare gekämmt und Rouge aufgelegt, denn sonst hätte man
mich wahrscheinlich schon an der Tür zum Großraumwagen abgewiesen.
Das sind die Tücken des wahren Reporterlebens. Glaub’s mir. Damit
muß man fertig werden. Schlimm?“
Auf der Autobahn ist in dem Stau inzwischen fast eine Stunde vergangen.
Linda hat eine Idee: „Du hast doch ein Handy, Patrik, kannst Du Jesus nicht
anwählen. Dann wüßten wir mehr.“
Der Outlaw bedauert: „Leider geht das nicht. Ich weiß seine Nummer
nicht. Irgendwo zuhause hab’ ich die Zahlen gespeichert. Aber das nützt
uns jetzt nichts.“
„Und wenn Du die Auskunft anrufst?“. Linda läßt nicht locker.
Pete hat einen weiteren Einwand: „Der ist doch momentan nur über die
Firmennummer erreichbar. Und um die herauszukriegen, müßten
wir den Namen der Firma kennen. Weißt Du den Namen des Unternehmens,
ich erinnere mich nicht daran?“
Helen kann sich nicht erinnern, den genauen Unternehmensnamen jemals
gehört zu haben: „Aber die Spedition heißt Müller, oder
Maier, oder Müllermaier, oder so ähnlich?“
Patrik kann mit diesen Angaben nichts anfangen:“Nein, nein; die Firma
heißt anders. Aber wie der Name ist, darauf komme ich auch nicht.
Ich glaube, daß sie mit P angefangen hat.“
„Mit P?. Keinesfalls ist das der erste Buchstabe vom Namen“, Linda-Lady
ist sich sicher. „Aber lassen wir das mit dem Handy. Gibt es sonst keine
Möglichkeit, ihn zu erreichen?“
Patrik denkt daran, daß Jesus in seinem Truck auch Funk hat.
Aber um ihn anfunken zu können, müßte er selbst über
Funk verfügen. In dem Hummer ist jedoch kein entsprechendes Gerät
untergebracht. Linda-Lady hat dieselbe Idee und überlegt laut, ob
man nicht irgendwo in den vielen Fahrzeugen im Stau nachsehen solllte,
ob nicht irgendwer ein Funkgerät hat.
Patrik verwirft die Anregung: „Wer weiß, wie lange wir suchen
würden. Und ob es mit dem Funken dann klappt, wer weiß das?
Lassen wir das. Vielleicht fällt uns noch etwas Besseres ein.“
Pete zeigt Verständnis gegenüber Helen: „So einer Kälte
muß man eben Opfer bringen.“
Helen ist erleichtert. Es ist ihr peinlich, ihm davon erzählen
zu müssen, daß sie an dem Tag ungewaschen auf Tour gegangen
ist. Aber sie will kein Detail auslassen. Und flunkern will sie ihm gegenüber
auch nicht; allenfalls ein ganz klein wenig, wenn es nötig sein sollte.
Aber diese Situation sieht sie nicht als gegeben an und fährt aufrichtig
fort:
„Beim Brunch war ich selbstverständlich nicht die einzige, die
körperlich und vom Äußeren her gleichsam aus den Nähten
gefallen war. Zum Glück. Es ist komisch, wenn ich das jetzt sage.
Aber gemeinsames Leid ist auch geteiltes Leid. Es gab an dem Tag kaum jemand,
der in der Nacht nicht gefroren hatte.
Wir sahen alle wie eine verschworene Gemeinschaft aus, und irgendwie
waren wir das auch. Ich finde es immer wieder faszinierend, was Menschen
für Opfer auf sich nehmen, wenn sie sich etwas Bestimmtes vorgenommen
haben. Geht Dir das auch so?“
Helens plötzliche Frage traf Pete unvorbereitet, aber er konnte
ihr spontan beipflichten, daß manche Vorgänge wirklich interessant
sind. Sie war voll damit beschäftigt, sich selbst zu verdeutlichen,
was sie erlebt hatte. Bewußt hatte sie seit damals im einzelnen darüber
nicht nachgedacht.
„Du mußt Dir das einmal vor Augen führen, was da abgegangen
ist: Insgesamt 23.000 Menschen, so viele waren das etwa, tatsächlich,
ich hatte das recherchiert, wollten innerhalb von zwei Tagen heiraten.
Und die erste Gruppe, die ungefähr 15.000 Menschen umfaßte,
hatte sich den ersten Weihnachtstag dafür ausgewählt. Die
anderen hatten ihre Planung auf den zweiten Weihnachtstag ausgerichtet.
Übrigens, das bringt mich auf eine Idee. Wenn ich mal wieder beim
Innsbruck White Christmas bin, werde ich mich mal darum kümmern und
ermitteln, warum manche Paare partout erst am zweiten Weihnachtstag heiraten
wollen. Das muß doch einen Grund haben. Was meinst Du?“
Die unglaubliche Hitze im Hummer fordert ihren Tribut: Linda fragt Patrik
nach der Limo, und schon ist die Flasche von ihm hervorgeholt und geöffnet.
Aber die Hitze: Die Flasche scheint aufgewärmt zu sein, und der Inhalt
ist mehr als nur lauwarm. Das Zeug in der Flasche schmeckt jetzt furchtbar,
aber besser als gar nichts. Und Linda schluckt langsam, aber sicher. Patrik
macht es ihr nach und verzieht das Gesicht zu einer wohl furchtbaren Grimasse,
denn Linda mißfällt das: „Also wirklich, Patrik, so muß
Du Dich aber nicht anstellen. Sei froh, daß wir überhaupt etwas
zu trinken dabei haben.“
„Schon gut, Linda, reg’ Dich nicht auf. Ich habe das nicht so gemeint.
Die Hitze macht Dich anscheinend reizbar. Reg’ Dich ab, falls ich Dich
aufgeregt habe.“ Patrik selbst sagt das in gereiztem Ton, und die 22jährige
läßt erkennen, daß auch ihr die Hitze zu schaffen macht.
Sie fährt ihren Outlaw geradezu an: „Was sagst Du da. Ich muß
mich nicht abregen. Ich habe mich überhaupt nicht aufgeregt. Du bist
nervös. Warum willst Du Deine Stimmung auf mich abladen. Ich habe
Dir doch nur etwas zu trinken angeboten. Sonst nichts.“
Patrik macht im Hummer gute Miene: „Schon gut Linda-Baby, ich bin Dir
dankbar. Really. Forget it. Ehrlich. Laß’ uns in aller Ruhe darüber
nachdenken, was wir machen sollen.“
Eine begründete Erklärung auf Helens Frage hin hat Pete nicht,
aber er zeigt Interesse an der Thematik: „Vielleicht wollen die Paare,
die am zweiten Weihnachtstag heiraten, erst sehen, wie es den anderen am
ersten Tag ergeht? Das wäre eine Möglichkeit. Vielleicht aber
sind sie darauf angewiesen, abwarten zu müssen? Das könnte auch
sein, Helen.“
„Wie meinst Du das? Das verstehe ich nicht.“
„Na ja“, entgegnet Pete, „möglicherweise haben die weniger Geld
und wollen zum Beispiel das Hochzeitskleid oder den Frack gebraucht von
einem anderen Paar erwerben. Das könnte doch sein, oder?“
„Nein“, Pete, „das glaube ich weniger. Sicherlich, in dem einen oder
anderen Fall könnte Deine Annahme zutreffend sein, aber die meisten
der Bräute wollen in einem neuen Kleid oder Anzug oder was auch imer
getraut werden. Ich jedenfalls möchte bei meiner Hochzeit kein Kleid
tragen, das eine andere Frau erst einen Tag zuvor ausgezogen hat. Das würde
mich stören. Allerdings: in einem hast Du recht, es gibt viele, die
ihre Brautsachen verkaufen und andere, die diese Kleidungsstücke tragen.
Aber meist haben die Verkäuferinnen von Brautsachen diese Stücke
schon lange vorher angehabt. Da ist die Erinnerung nicht so stark und direkt.
Vielleicht siehst Du das anders?“
Pete fällt auf Helens Frage nichts ein: „Tut mir leid, aber mit
solchen Problemen habe ich mich noch nie beschäftigt. Ihr Frauen denkt
in dem Punkt wahrscheinlich auch anders wie wir Männer.“
Helen ist mit dieser Antwort nicht zufrieden: „Was hat das mit dem
Unterschied von Mann und Frau zu tun. Als Mann könnt ihr doch auch
darüber nachdenken, wie man Geld einsparen kann. Oder ist das zuviel
verlangt?“
Sie schwärmt geradezu von den Wedding Days, obwohl sie ihre bitteren
Erfahrungen mit der großen Kälte hatte: „Unglaublich, daß
alle Paare ausgehalten haben und zu den jeweiligen Terminen erschienen
sind.“
Sie erinnert sich: Die einen hatten über ihre Hochzeitskleidung
dicke Mäntel oder Jacken gezogen, anderen waren in voller Hochzeitsmontur,
aber in dicke Wolldecken gehüllt, dem Glockengeläut gefolgt.
Helen war richtiggehend aufgeregt, als sie davon berichtete: „Diese Glocken,
wenn man deren Klang weithin durch die Berglandschaft hört, sie sind
schon betörend. Das sind dann wirkliche Hochzeitsglocken. Ganz wie
im Märchen. Wirklich, diese weiße Pracht bewirkt eine Steigerung
des Erlebnisses. Hast Du das auch schon so erlebt, Pete?“
Linda und Patrik sind unschlüssig, was sie unternehmen könnten.
Die Hitze scheint das Gehirn lahm zu legen. Der Outlaw bringt seine Lady
auf andere Gedanken: „Siehst Du die Holländer dort an dem Tisch auf
der Autobahn? Schon toll, in welcher Ruhe die gemütlich essen und
es sich gut gehen lassen. Irgendwie haben diese Leute eine andere Mentalität
wie wir. Die sind anscheindend ruhiger als wir.“
Linda ist skeptisch. „Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Je nachdem.
Das Bild kann täuschen. Nicht jeder, der still in sich hineinschluckt,
ist auch zufrieden.“
Damit ist das von Patrik aufgegriffene Thema beendet. Linda wendet
sich einem neuen, aber früher schon angerissenem Gedanken zu: „Meinst
Du nicht, daß es besser wäre, wenn wir von der Autobahn abfahren
und es versuchen würden, über Schleichwege und Landstraßen
weiter voran zu kommen?“ Patrik verneint: „Momentan kommen wir hier nicht
mehr weg. Schau Dich doch um. Das ist doch alles zugeparkt. Von vorn bis
hinten. Allenfalls könten wir mit unsrem Gerät über den
Acker pflügen, aber das würde der Landschaft kaum guttun. Bei
unserem Gewicht würden wir dabei eine Riesenspur hinter uns herziehen.
Vergiß das!“
Linda-Lady stimmt im Hummer zu, daß ein Ausweichen über
den Acker und ins freie Gelände tatsächlich Schwierigkeiten mit
sich bringen würde. „Sicherlich, Patrik, das sehe ich auch so. Unser
Geländefahrzeug nützt uns in der Hinsicht nicht. Wir würden
zu viel kaputtfahren. Und bis zur nächsten Ausfahrt kommen wir nicht.
Dazu ist der Wagen zu groß, und die Lücken zwischen den parkenden
Fahrzeugen sind zu klein. Was machen wir nur?“
Im Zug versucht Pete, sich vorzustellen, wie er am Hochzeitstag auf
Glockengeläut reagieren würde. Aber ihm fällt dazu nichts
ein. Zum einen hat er noch nie Hochzeitsgedanken gehabt, zum anderen ist
ihm Glockengeläute meistens ein Graus und nichts als Lärm. Aber
er will Helen nicht erschrecken und übergeht ihre Frage mit einer
Bitte: „Erzähl’ doch weiter. Mich interessiert die ganze Geschichte.“
Und sie läßt sich nicht zweimal zum Berichten auffordern:
„Also gut, ich fahre fort. Das Ganze war unglaublich schön, trotz
der Kälte. Als ich meine Sendung hatte, gab es eine Hörerquote,
von der ich heute noch träume.
Ich sprach damals mit einem angehenden Ehepaar aus Paris. Das Besondere
daran war, daß die Braut aus England stammte, er war aus Paris. Beide
hatten sich bei einem Stau-Event in London kennengelernt und nach mehrmaligem
Zusammentreffen lieben gelernt. Ich weiß es noch: sie hieß
Jeannett, er hörte auf den Namen Per. Seine Eltern, das erzählte
er mir ins Mikrofon, waren Dänen und hatten Arbeit in Frankreich angenommen.
Die Welt ist in der Hinsicht klein geworden.
Wie gesagt, ich hatte beide morgens als Gäste, und am späten
Nachmittag, nachdem die eigentliche Trauung stattgefunden hatte, kamen
sie nochmals zu mir und sprachen über ihre Gefühle. Das war wirklich
einmalig. Noch während der Sendung gab es Tausende von Anrufen in
unserer Zentrale in Dresden, und alle Anrufenden wollten wissen, ob dieses
Interview echt oder gestellt war. So hatte es eingeschlagen.
Die beiden frisch getrauten Eheleute hatten so überzeugend und
eindringlich gesprochen, daß alle Zuhörer davon berührt
waren. Ich selbst übrigens auch. Mich hat das alles irgendwie stark
beeindruckt. Eine solche Story hat man nicht täglich auf der Pfanne.
Kannst Du Dir das vorstellen?“
Patrik munterte Linda im Hummer wieder auf: „Mach`Dir nichts draus,
Baby. Wir kommen schon wieder klar. Obwohl ich nicht mehr sicher bin, daß
wir heute noch pünktlich in München ankommen. Mir scheint, wir
müssen uns darauf gefaßt machen, daß sich unser Termin
gewissermaßen verspätet. Notfalls rufe ich dort an und sage
denen Bescheid, daß sich unsere Ankunft verzögert. Den Kopf
abreißen werden sie uns wohl nicht. Schließlich können
wir nichts dafür, daß sich der Stau über Stunden erstreckt.
Ich schlage vor, wir hören uns wieder Musik an. Drück mal die
CD rein. Unsere Single liegt auf: Let’s stau again. In unserer Situation
witzig, oder?“
Beide spüren, daß sie an diesen Tag sicherlich noch lange
zurückdenken würden. In einiger Entfernung, aber doch relativ
nahe, rauscht einer der Züge vorbei, die mit Tempo 300 und mehr unterwegs
sind. „Sieh an, Linda, der fährt nach München, das ist der FT
X2000. Und wir schwitzen hier. Warum sind wir eigentlich nicht per Bahn
gefahren? Wir könnten es so einfach haben.“
„Sag mal“, will Pete von Helen wissen, „hatten Deine Angetrauten ihre
Hochzeitskleidung schon am Morgen an, oder sind sie erst am Nachmitag damit
erschienen? Oder waren sie ganz einfach in normaler Kleidung gekommen?“
Helen nickt: „Ganz recht. Das war wirklich auch für mich interessant.
Nein, sie sind erst am Nachmittag zur eigentlichen Trauung ganz toll aufgemöbelt
aufgekreuzt. Morgens trug er Jeans und eine dicke Jacke, sie hatte ebenfalls
einen Wollpullover und Jeans an; natürlich hatte sie ihren zum Glück
wattierten Mantel vorher ausgezogen, denn in unserem provisorischen kleinen
Studio war es zum Glück schön warm.
Apropos Wärme und Kälte: Bei der Trauung wird regelmäßig
viel Musik gemacht. Es spielten damals Kapellen aus insgesamt 17 Ländern
auf. Von modernsten Rhythmen bis hin zu Alpenjodlern war alles Mögliche
zu hören. Mir haben übrigens die amerikanischen Bands am besten
gefallen; auch die afrikanischen Gruppen hatten viel Gefühl in ihren
Liedern. Wie auch immer aber: Worauf ich hinaus will. Trompeter, Posaunisten,
Saxophonisten und andere, die ähnliche Blasinstrumente spielen, hatten
größte Schwierigkeiten, überhaupt Töne bei der Kälte
herauszubringen. Manche schafften es noch, andere mußten ihre Instrumente
einfach wieder einpacken. Das alles war äußerst chaotisch, aber
ungeheuer spannend und erfrischend aufregend.
Selbst verschiedene Mikrofone stellten ihren Dienst bei der Kälte
ein, und Technik ließ erkennen, daß alles irgendwie Grenzen
hat; auch die neuesten und besten technischen Errungenschaften, wenn das
Wetter nicht mitspielt. Natur ist letztendlich stärker. Wenn auch
die Menschen meistens flexibel darauf reagieren können; häufig
zumindest.“
Pete wollte es genau wissen: „Und was trug das Paar am Nachmittag?“
Helen ging darauf ein: „Sie hatte einen Traum von weißer Spitze an,
er war mit einer dunkelroten modernen Jacke und einer schwarze Hose bekleidet.
Sie war übrigens mit einem riesigen Hut ausstaffiert und sah wie eine
echte Dame aus. Dabei war das Paar noch ganz jung. Sie war 18, er 19 oder
20, ganz genau weiß ich das nicht mehr. Aber sicher ist: sie waren
beide noch fast wie Kinder und ganz nett,“
Helen ist im Zug auf Petes Fragen hin ein wenig von ihrer Erzählspur
abgekommen, denn über den eigentlichen privaten Knüller an dem
Tag beim Innsbruck White Christmas hat sie bislang noch gar nicht gesprochen.
„Paß auf, Pete, jetzt beginnt meine Überraschung zweiter
Teil. Aber der Reihe nach. Selbstverständlich fielen an den außergewöhnlichen
Wedding Days einige der sonst üblichen Angebote aus. Zum Beispiel
wurde zum Teil auf die sonst so beliebten Schlittenfahrten verzichtet;
nur die ganz Mutigen wagten sich im dicken Pelz und in Decken gehüllt
in die Kälte und auf Tour. Andere waren beim Skifahren, beim Snowboarding,
beim Langlauf in der Loipe. Aber die meisten verbrachten den Tag möglichst
im Warmen; ich nutzte die restlichen Stunden des Tages zum Beispiel zu
verschiedenen Interviews in einer der Raststätten, die in den Stau
jeweils räumlich integriert sind.
Alles in allem schien der erste Weihnachtstag gelaufen zu sein, und
ich freute mich trotz aller Kälte schon auf den zweiten Feiertag.
Da es am späten Nachmittag schon bald dunkel wurde, hatte ich mich
bereits so gegen 17 Uhr in mein Mini-Mobil zurückgezogen. Ich brauchte
unbedingt Schlaf, denn ich war hundemüde und geschafft.
Du mußt Dir die Situation vor Augen führen, Pete: Ich in
meinem Wagen. Alles Heizbare auf voller Stärke und ich in sämtliche
verfügbaren Decken gehüllt; selbstverständlich hatte ich
auch noch alle Klamotten an, die ich vorher schon getragen hatte. Ich kam
mir wie eine Abenteuerin vor, die am Polarkreis übernachten will.
Nur die Eisberge und die Eisbären fehlten dabei. Aber Berge um mich
herum hatte ich genug und Kälte auch.“
„Helen, möchtest Du noch etwas zu trinken“, unterbrach sie Pete,
der anschließend die Kaffee-Bestellung beim Kellner aufgab, nachdem
Helen bejahend genickt hatte.
Linda und Patrik beobachten vor ihnen auf der Autobahn spielende Kinder,
als plötzlich jemand an der Fahrertür erscheint und leicht dagegen
klopft: „Guten Tag auch, darf ich Sie kurz stören. Ich habe ein Problem,
und vielleicht können Sie uns helfen?“
Patrik sieht nach links und erkennt einen grauhaarigen Mann, der vielleicht
60 Jahre alt ist: „Um was geht es?“ Der Outlaw hat bei dieser Frage seine
freundlichste Miene aufgesetzt. Aber man merkt ihm an, daß ihm das
Lächeln in der Hitze schwer fällt.
Linda schaut zu dem älteren Mann hinüber, während jener
dem Outlaw seine Problematik schildert: Seine Ehefrau, seine Schwiegertochter
und deren Dackel würden sich nur wenige Fahrzeuge hinter dem Hummer
in einem Pkw befinden und furchtbar leiden. Denn sie hätten nichts
Trinkbares dabei.
Der Mann: „Meiner Ehefrau ist schlecht, meine Schwiegertochter hat
Probleme, denn sie ist schwanger im vierten Monat, und unser Dackel hechelt
erbarmungswürdig und kann sich kaum noch regen. Wir brauchen unbedingt
etwas Wasser oder sonstwie Trinkbares.“
Entsprechende Fragen an die anderen Umstehenden, ob sie Wasser entbehren
könnten, habe er schon gestellt. Aber alle benötigten ihre noch
vorhandenen Flüssigkeitsreste selbst. Manche, wie etwa die Holländer,
hätten ihre letzten Vorräte leider schon aufgetrunken. Der wohl
60jährige, der möglichweise aber auch erst 50 oder 55 Jahre alt
ist, ist demoralisiert. Von Patrik und Linda erhofft er sich Hilfe.
Der Outlaw greift hinter sich und holt auf die Bitte des älteren
Mannes den lauwarmen Rest der Limo hervor: „Wir haben hier noch ein wenig
Sprudel, aber empfehlenswert ist der nicht mehr. Das Zeug ist fast ungenießbar
geworden, sorry.“
Der Bittende ist dennoch erleichtert und lächelt: „Wenigstens
etwas, das hilft uns schon. Vielen Dank.“ Er nimmt die Flasche an sich
und geht zu seinem Fahrzeug zurück.
Linda schaut dem älteren Mann durch die Rückscheibe hinterher.
Seine Worte haben sie berührt. Sie wendet sich Patrik zu: „Meinst
Du nicht, daß wir uns um ihn und seine Familie kümmern sollten?“
„Wie sollten wir denn helfen?“
Sie schüttelt unwillig ihren Kopf: „Also, so kannst Du jetzt nicht
fragen. Natürlich können wir irgendwie helfen. Helfen kann man
doch immer, wenn man nur will. Und ich will helfen. Und Du machst mit.
Laß’ Dir etwas einfallen. Sonst hast Du auch immer Ideen. Reiß’
Dich zusammen. Bitte, wir müssen denen helfen, gell.“
Lindas bittender Tonfall zum Schluß hilft Patrik über ihren
spontanen leichten Ausbruch von Zorn hinweg: „Shurly, irgendetwas können
wir schon tun. Ich mach’ ja mit. Aber Du könntest auch mal was vorschlagen,
wenn Du schon solche Ideen hast.“
Ud sie hat sofort einen Einfall: „Ich höre mich mal bei den weit
Vornstehenden um, ob von denen nicht einer etwas zu trinken hat. Da gibt
es doch gar nicht, daß bei den vielen Wohnwagen und Wohnmobilen niemand
etwas zu trinken übrig hat. Bis gleich, Patrik, ich gehe los. Du kannst
ja hier auf mich warten. Es dauert nicht lange, dann bin ich zurück.
Wetten!“
Helen hat ihre Erzählung wieder aufgenommen: „Also, ich bin gerade
ready und will versuchen, einzuschlafen. Da klopft es plötzlich wie
wild gegen die Tür. Was glaubst Du, Pete, wer davor stand?“
Sie gibt die Antwort selber: „Es waren meine Nachbarn, und zwar die
aus dem Riesenteil , aus dem Georgie Boy Maverick. Und was glaubst Du,
wen ich erblickte?“
„Es waren Jeannett und Per. Du glaubst gar nicht, wie überrascht
wir alle waren. Die beiden hatten mich zuvor nicht gesehen, irgendwie hatten
wir uns am Standplatz immer verpaßt oder und nicht bewußt beachtet,
und ich hatte sie nicht als meine Nachbarn in Erinnerung. Verrückt,
oder?“
„Kurz und gut“, schildert Helen die Lage beim Innsbruck White Christmas:
„Jeannett und Per hatten zwar ein technisch und ansonsten optimales Fahrzeug,
aber eines versagte den Dienst: die Heizung. Das Hochzeitspaar, das sich
so auf die Hochzeitsnacht gefreut hatte, fror wie ein Schneider, dem in
alter Zeit mangels Einkünften die Kohlen ausgegangen sind. Ist das
nicht eine irre Situation gewesen?“.
Die Reporterin ist beim Reden jetzt nicht mehr zu stoppen: „Pete, stell
Dir vor. Ich hatte die beiden jungen Leute in meinen Mini hereingeholt,
und da hockten wir nun zu dritt; auf engstem Raum. Das immer noch frierende
Pärchen.Und ich, die ich ihnen zwei meiner drei Decken zum Aufwärmen
gegeben hatte.
Zuerst sagten wir nichts. Das alles war wortlos vor sich gegangen.
Aber dann sahen wir uns gegenseitig an und mußten plötzlich
alle lachen. Wirklich. Wir haben gelacht wie jemand, der voll im Lotto
gewonnen hat. Es war unglaublich, aber die Situation war so komisch, komischer
geht es nicht. So etwas kann man nicht erfinden, das muß man erleben.“
„Die Situation in meinem Wagen war eindeutig, aber dennoch äußerst
schwierig. Die Frage war, was geschehen sollte. Die jungen Leute hatten
kein Geld für ein Hotel und waren auch gar nicht darauf eingestellt,
und ich hatte zwar Geld, wollte aber auch nicht ins Hotel gehen, da meine
gesamte Kleidung verwurschtelt war. Ich wäre im Hotel sicherlich als
Pennerin abgewiesen worden. Also mußte eine andere Lösung her.“
Linda-Lady hat zwischenzeitlich den Hummer verlassen und sich aufgemacht,
etwas Trinkbares aufzutreiben. Patrik sieht sie zwischen den vielen Fahrzeugen
verschwinden und denkt mit Stolz an sie: „Meine Linda ist schon strong.
Real, mit ihr habe ich einen guten Fang gemacht. Irgendwie ist sie was
Besonderes. Immer mal wieder gereizt und auch aufbrausend, aber doch lieb.
So eine richtige Charakter-Type mit allem Drum und Dran; hilfsbereit und
nett, immer voll engagiert und trotzdem ganz überlegt. Ein kluges
Mädchen.“
Ihm kommt die Wartezeit wie eine Ewigkeit vor. Die Sonnenstrahlung
hat zwar aufgrund der relativ späten Tageszeit schon abgenommen, aber
heiß ist es noch immer. Es geht auf halb Sechs zu, und im Stau rührt
sich nichts Wesentliches. Noch sind Rettungshubschrauber am Himmel
auszumachen, noch melden die Radiosender vom Unfallgeschehen, das offenbar
noch schlimmere Folgen hat als man ursprünglich angenommen hatte.
Die Anzahl der Verletzten ist laut Berichten von angenommenen 43 auf vermutlich
78 gestiegen, die Zahl der Toten hat sich von bisher geborgenen acht auf
vierzehn erhöht. Es waren nicht ursprünglich geschätzte
60 Kraftfahrzeuge in den Unfall verwickelt, sondern über 90, wie zwischenzeitlich
ermittelt worden ist. Eine Ursache für die Tragödie hat man bis
zum derzeitigen Moment noch nicht herausfinden können.
Im Zug, der auf der Albhochfläche Ulm bereits hinter sich gelassen hat und auf Augsburg zusteuert, ist das riesige Staugeschehen selbstverständlich von den Reisenden im Vorbeifahren auch beobachtet worden; lediglich Helen und Pete sind so in ihr Gespäch vertieft, daß sie gleichsam nur am Rande mitbekommen, was sich Dramatisches auf der Autobahn ereignet hat. Der Kellner serviert die bestellten Kaffees und erwähnt nebenbei die Tragik des Unfalls. Helen und Pete nehmen das bedauernd zur Kenntnis, sind aber so in ihrer eigenen Erzähl-Welt, daß die Tragödie nicht näher von beiden erörtert wird. Helen ist gedanklich wieder beim Innsbruck White Christmas.
Patrik strahlt, als Linda zurückkehrt. Schon von weitem streckt sie ihre Hände hoch, in denen sie offenbar einen Trinkkanister hält, und sie signalisiert ihrem Outlaw damit, daß sie bei ihrer Suche erfolgreich war. Patrik verspürt ein großes Gefühl der Zufriedenheit in sich und spricht in Gedanken zu sich: „Es war doch gut, daß Linda diesen Entschluß gefaßt hat. Sie ist einfach absolute Spitze. Real. Eine strong Mam. Richtiggehend zum Heiraten.“ Patrik wundert sich über sich selbst: Zum ersten Mal ist ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen. Daß er sich in sie verliebt hat, das weiß er schon seit einiger Zeit. Er winkt seiner Linda zu, als diese sich dem Hummer auf wenige Meter genähert hat.
Helen schildert Pete im Zug in allen Einzelheiten ihr besonderes Zusammentrefen
mit Jeannett und Per: „Ich war mir bewußt, daß ich dem Paar
helfen mußte, und dann kam mir ein kühner Gedanke: Ich erinnerte
mich an meine Freundin Erika, von der ich wußte, daß sie sich
etwa 300 Meter seitlich entfernt von mir in ihrem Tabbert-Classic-Mobil
aufhielt. Das ist auch ein älteres Fahrzeug, aber immer noch top in
Schuß.“
„Und was für ein Baujahr?“ Pete ist interessiert, über diese
Detail mehr zu erfahren. Und Helen: „Das ist ein 580 LS auf Fiat Ducato,
Baujahr 1999 glaube ich.
Die Reporterin kommt in dem Moment auf ihre Freundin Erika zu sprechen:
„Sie ist eine Münchnerin und die große Organisatorin der Wedding
Days. Sie hat als Managerin in ihrer Firma mit einem Team von etwa zehn
Leuten die gesamte Verantwortung dafür, daß alle Vorbereitungen
für die Wedding Days plangemäß ablaufen. Sie hat natürlich
auch den Innsbruck White Christmas maßgeblich mit gestaltet. Und
in dieser Funktion war sie dabei.“
„Ich überlegte mir also“, berichtet Helen, nachdem sie einen Schluck
aus ihrer Tasse genommen hatte, „ob ich Erika bitten könnte, für
eine Nacht bei ihr mit zu schlafen. Das Dumme war nur, daß ich nicht
wußte, ob Erika allein sein würde. Es hätte ja sein können,
daß sie Besuch haben würde. Aber das wußte ich zu dem
Zeitpunkt nicht. Ich machte entsprechend den jungen Leuten klar, daß
sie in meinem Mini übernachten könten, wenn ich Platz bei Erika
finden würde. Und dann rief ich sie per Handy an. Zum Glück hatte
ich ihre Nummer.“
„Was, Helen Du bist es, Du willst bei mir schlafen“, war Erika beim
Anruf erstaunt. Und dann lachte sie laut auf, als Helen ihr einen Teil
der Geschichte verklickerte. „Natürlich, ich bin allein, Du kannst
anrücken. Ich freue mich darauf. Hier ist es schön warm. Du brauchst
außer Deinem Schlafanzug oder Deinem Nachthemd nichts als gute Laune
mitzubringen. Und natürlich mußt Du mir das alles in Einzelheiten
erzählen. Darauf bestehe ich. Ansonsten: wünsch’ dem Pärchen
alles Gute und gute Nacht von mir. Ciao. Ich erwarte Dich.“
Helen ist froh, dem jungen Paar die gute Nachricht mitteilen zu können.
Und die Eheleute sind einverstanden damit. Sie wird den Mini räumen,
und das Paar wird seine Hochzeitsnacht in dem Fahrzeug verbringen. Wie
auch immer. Aber darüber macht sich Helen keine Sorgen. „Die beiden
werden schon irgendwie zurechtkommen.“ Und sie macht mit Jeannett und Per
aus, daß sie am nächsten Tag vermutlich am Nachmittag zurückkehren
wird. Bis dahin müßten sie auf sie warten oder den Autoschlüssel
an einer bestimten Stelle hinterlegen.
Helen hat ihren Schlafanzug eingepackt, die Zahnbürste braucht
sie noch und ihre Tasche, in der sich der Lippenstift und andere Utensilien
befinden, die die Reporterin für sich als notwendig erachtet. Dann
verabschiedet sie sich, und nochmals müssen alle laut lachen. Die
Situation ist einfach zu komisch.
Linda freut sich Patrik gegenüber, einen vollen Kanister mit noch
gekühltem Trinkwasser organisiert zu haben. In einem Wohnwagen zweier
Niederländer hatte sie diesen Erfolg gehabt. Und die Urlauber hatten
sofort eingewilligt, das Wasser an die notleidende Familie abzugeben. Linda
ihrerseits hatte versprochen, den Kanister später wieder zurückzubringen,
oder dafür zu sorgen, daß andere ihn wieder abliefern würden.
Sie ist bereits auf dem Weg zu der Familie, die unbedingt etwas Trinkbares
benötigt, und sie muß nicht lange nach dem Wagen suchen. Denn
schon aus einiger Entfernung erkennt sie neben einem Ford, dessen Türen
alle weit offenstehen, einen Dackel im Gras liegen. „Das werden sie
sein“, geht es Linda durch den Kopf, und sie behält recht damit. Die
Freude ist groß, als sie eintrifft und ihr Geschenk anbietet.
Die Lady ist glücklich, Wasser besorgt zu haben. Denn die ältere
Frau und die schwangere Schwiegertochter sehen ziemlich erschöpft
aus. Beide trinken sehr vorsichtig und langsam, aber das kühle Naß
zeigt schnell Wirkung. Auch der Dackel hat zwischenzeitlich das rettenden
Naß vom Herrchen bekommen und schlürft so laut, daß es
eine wahre Freude ist, ihm dabei zuzuschauen. Helen verspürt eine
tiefe Zufriedenheit. Fast kommen ihr die Tränen dabei, so rührend
sind die Szenen, die sie erlebt.
Auch Stau-Nachbarn der älteren Leute haben sich eingefunden und
freuen sich zusammen mit Linda über die gewisse Rettungsaktion, die
klein zu sein scheint, aber große Wirkung hat. „Ich danke Ihnen.
Ich danke Ihnen so sehr.“ Der ältere Mann bringt kaum die Worte heraus,
stammelt fast und sagt immer wieder dasselbe: „Ich danke Ihnen, ich danke
Ihnen so sehr. Vielen Dank, junge Frau. Das werden wir Ihnen nie vergessen.
Sie sind eine großartige Frau.“
Linda-Lady weiß ob des vielen Lobs und der Anerkennung nicht,
wo ihr der Kopf steht. Als sie den Wasserkanister wiederbekommt, um ihn
zurückbringen zu können, ist sie seelisch um vieles reicher.
Beim Abschied schleckt ihr der Dackel sogar die rechte Hand ab, und das
bereitet ihr großes Vergnügen. „Ciao, kleiner Dackel“,
ruft sie ihm in Gedanken zu und geht, überhaupt nicht darauf achtend,
daß ihr Top ganz und gar durchgeschwitzt ist. Normalerweise würde
sie sich in diesem Outfit nirgendwo blicken lassen. Heute ist ihr ihr Äußeres
wurscht. Ihre Augen glänzen, als sie aufrecht durch die Wagenreihen
schlendert und mancher Blick auf ihr ruht.
Linda winkt Patrik beim Vorbeigehen kurz zu, und jener weiß,
was sie vorhat. „Sie wird bald zurücksein. Offenbar hat sie großen
Erfolg gehabt. So wie sie jetzt strahlt, muß sie einfach viel Glück
erlebt haben.“ Ein Blick auf die Uhr: Es ist kurz nach Sechs. „Um 18 Uhr,
also schon vor einigen Minuten, war unser Termin in München“, sinniert
Patrik. „Egal, morgen ist auch noch ein Tag. Dann sehen wir weiter.“ Er
nimmt sich vor, per Handy jetzt beim ADACT anzurufen, um den Leuten dort
auch den Grund der Verzögerung mitzuteilen.“
Helen, das berichtet sie Pete im Zug ferner, hat dann bei ihrer Freundin
geschlafen. Beide haben noch viel gelacht und die Nacht über kaum
ein Auge zugemacht, aber das Datum wird beiden unvergeßlich bleiben.
Und während der Zug schon hinter Augsburg auf München zurollt,
schildert Helen abschließend, daß auch die jungen Eheleute
noch heute davon schwärmen würden, was sie alle damals erlebt
haben. „Sie schreiben mir manchmal noch“, versichert Helen und teilt Pete
noch etwas Interessantes mit: „Die Freundin, die ich heute in München
besuchen will, das ist übrigens genau diese Erika, von der ich erzählt
habe.“
Demnächst heißt es auszusteigen, denn der Hauptbahnhof in
München ist bald erreicht. Noch wenige Minuten, dann werden sie am
Ziel sein. Beide haben sich vorgenommen, den Abend gemeinsam zu verbringen.
Sie wollen vorher noch miteinander telefonieren, denn Helen geht davon
aus, daß ihre Freundin Erika nicht abgeneigt sein wird, zusammen
mit ihr noch etwas zu unternehmen. Und dabei würde sie dann Pete kennenlernen.
Linda-Lady ist zum Hummer und zu ihrem Patrik zurückgekehrt.
Er küßt sie zärtllich beim Eintreffen und macht aus seinem
Stolz keinen Hehl. Sie berichtet von ihren Eindrücken. „Ich habe Glück
gehabt. Hätten wir für unsere Fahrt nicht den Hummer genommen,
sondern meinen Nissan, dann wäre alles viel einfacher gewesen. Denn
mein Kühlschrank im Fahrzeug ist immer gefüllt. Aber ich mache
Dir keinen Vorwurf.“
Patrik muß grinsen, als er Lindas Argumentation hört: „Wenn
sie nicht das letzte Wort hat, dann ist sie krank“, geht es ihm durch den
Kopf, und dann berichtet er ihr von seinem Anruf in München. Das Ganze
sei unproblematisch. Der Termin sei einfach auf den nächsten Tag verschoben
worden.
Der Outlaw, der seine Sonnenbrille inzwischen abgenommen hat, denn
die Sonne scheint bei weitem nicht mehr so stark, registriert Unruhe im
Stau. „Da tut sich was.“ In weiter Ferne ist Bewegung auf der Autobahn
am Aichelberg zu erkennen. „Linda, mach Dich bereit, gleich geht es weiter.
Der Stau löst sich auf. Wir können weiterfahren. Auf nach München.
Wir kommen.“