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Kapitel: |
7. Kapitel
Jesus steht mit seinem Truck auf einem Rastplatz und spricht per Handy
mit Pitters Jörn, den er auf Anhieb in dessen Appartement in Köln
erreicht hat. Der gebürtige Kölner ist seit vielen Jahren sein
Beifahrer, und beide sind nicht nur bei der Arbeit ein eingespieltes Team.
Viele gemeinsame Ereignisse haben sie zusammengeschweißt, und da
sowohl Jesus als auch Pitters Jörn die Welt bisher ausschließlich
aus der Sicht von Junggesellen betrachtet haben, sind sie zu einem hohen
Anteil auch gedanklich eins.
Pitters Jörn ist überrascht, als Jesus ihm von seiner Begegnung
in München erzählt. Zwar deutet der 29jährige seine Eroberung
nur an, aber seinem Freund kann er nichts vormachen. Der 31jährige
Pitters Jörn hat bereits am Klang der Stimme von Jesus erahnt, daß
dieser etwas für sie Ungewöhnliches erlebt hat. Außerdem
wundert es ihn jetzt nicht mehr, daß Jesus ihn überhaupt vom
Parkplatz aus angerufen hat. „Denn die eine Stunde bis Köln hätte
er ja auch noch warten können.“
Patrik und Linda sind im Hummer auf dem Weg in die Innenstadt von München, nachdem sie sich noch Luft für die Reifen an der Tankstelle geholt haben. Sie genießen die Fahrt trotz des regen Verkehrs, denn gedanklich sind sie nun ganz auf den Besuch beim ADACT eingestellt. Von Erika haben sie eine Beschreibung erhalten, wie sie ihr Ziel am günstigsten erreichen. Die Visite in der Innenstadt bedeutet keinen großen Umweg, und Zeit steht dem Paar bis zum Termin noch genug zur Verfügung. Lindas Vorschlag, jetzt irgendwo in der Nähe des Hauptbahnhofes zu parken, hat der Outlaw sofort aufgenommen.
Helen und Pete benutzen die Bahn, um zu Erikas Wohnung zu kommen. Beide sind glücklich in dem Bewußtsein, bisher einen schönen Tag erlebt zu haben. Beider Gespräch betrifft fast nur noch private Sektoren. Daß Pete erst Stunden zuvor seinen Vertrag beim ADACT erhalten hat, das scheint für das Paar vergessen zu sein. Der Kameramann und die Reporterin halten Händchen, und es stört sie überhaupt nicht, daß alle möglichen Leute darüber schmunzeln und zum Teil auch tuscheln. Sie sehen nichts von der schönen Umgebung, durch die sie während der Fahrt kommen. Pete ist ganz und gar auf Helen konzentriert, und Helen erwidert seinen Blick mit einem verliebten Lächeln.
Das Telefonat mit Pitters Jörn fällt relativ kurz aus, obwohl
es nach der Meinung von Jesus ziemlich long gewesen ist. Der 29jährige
liebt das viele Gerede nicht, aber es war ihm wichtig, von Pitters Jörn
zu erfahren, wie es gesundheitlich um ihn bestellt ist. Daß sein
Freund wieder auf dem Damm ist, das hat er jedoch fast nur nebenbei aufgenommen.
Seine Gedanken kreisen ständig um Erika mit, denn sie beschäftigt
ihn nach wie vor. „Wie komme ich nur an ihre Adresse?“, diese Frage geht
ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Jesus hat das Handy neben sich auf den Beifahrer-Sitz gelegt und betrachtet
eine kleine Streichholzschachtel, die er seit seinem München-Besuch
besitzt. Die Farben auf der Schachtel sind derart grell, daß er erst
beim vierten Hinschauen registriert, daß er eine Hotel-Werbung vor
sich hat. „Ist das nicht die Nobelbude, in der Helen und Pete abgestiegen
sind?“ Wie ein Blitz fährt ihm die Erkenntnis durch den Sinn: „Das
ist es. Über diese Telefonnummer werde ich Erikas Adresse erhalten.
Daß ich nicht gleich darauf gekommen bin.“
Während Patrik und Linda Münchens Innenstadt unsicher machen, sind Helen und Pete bei Erika eingetroffen, und die drei haben sich gegenseitig viel zu erzählen.
Währenddessen ruft Jesus im Hotel in München an und erkundigt sich nach Helen und Pete, deren Nachnamen er zwar nicht kennt, die er aber beschreiben kann. Der Empfangschef will ihm über das Paar zwar nichts Näheres sagen, aber Jesus erreicht von ihm die Zusicherung, daß er die beiden jungen Leute, sobald sie wieder im Haus sind, davon verständigen wird, daß ein Freund aus Köln angerufen hat und um Rückruf bittet. Die Handy-Nummer von Jesus hat sich der Empfangschef notiert. Daß der Mann am anderen Ende der Leitung behauptet hatte, daß er Jesus sei, das hat der Hotelangestellte mit Kopfschüteln zur Kenntnis genommen. „Die jungen Leute“, der ältere Empfangschef hat schon viel erlebt, aber so etwas zuvor noch nicht. „Man lernt nie aus“, ist seine Erkenntnis.
Patrik und Linda kommen nach ihrem Stadtbummel für ihre Verhältnisse
superpünktlich zum Termin; zehn Minuten haben sie noch Zeit bis zum
vereinbarten Date. Das ADACT-Gebäude liegt rund 50 Meter vor ihnen,
und schon jetzt können sie erkennen, daß sich vor dem Haus eine
Menschenmenge angesammelt hat. Sie hören Stimmen, scheinbar aus Lautsprechern,
können aber noch nichts Genaues sehen und verstehen.
Beim Näherkommen wird es deutlich: Es muß sich um eine Protestdemonstration
handeln. Überall sind Fahnen und Plakate auszumachen, auch Polizei
ist anwesend, über ein Megaphon wird die Stimme eines älteren
Mannes verstärkt, der auf einem Lkw steht und offenbar darüber
spricht, daß die Umwelt in allen Teilen der Welt zerstört werde.
Aus Wortfetzen werden beim Erreichen der Menschenmenge ganze Sätze,
und nun können Patrik und Linda den sprachgewandten Mann, der vielleicht
50 Jahre alt ist, in seiner vollständigen und sehr aggressiven Wortgewalt
erleben:
„Wir lassen uns das nicht länger bieten, daß die Natur und
die Menschen systematisch kaputtgemacht werden. Die Stau-Events sind eine
einzige Schande für die Menschheit. Hier leben sich satte und übersättigte
Kulturbürger aus, die in ihrer geistigen Hohlheit nichts Besseres
wissen, als sich in ihrer Blindheit mit Freß-, Eigen- und Präsentiersucht
selbstdarstellerisch laufend auf Kosten anderer sinnlos zu vergnügen.
Ich komme aus Österreich in der Nähe von Innsbruck und habe
meine Kollegen aus meiner Heimat und Kollegen aus Südtirol mitgebracht,
um Ihnen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu zeigen,
daß wir bereit sind, zu kämpfen, um unsere Heimat nicht länger
unnötig durch Stau-Treffen verhunzen zu lassen. Tausende von Tonnen
Obst und Blumen sind konkret bereits den Abgasangriffen im Zusammenhang
mit Stau-Events zum Opfer gefallen, und es ist ebenfalls seit Jahren von
Dutzenden von hochangesehenen Forschern der Nachweis darüber geführt
worden, daß Stau-Treffen für Mensch und Natur im höchsten
Maße und in vielerlei Hinsicht schädlich sind.
Es muß Schluß damit gemacht werden, daß der Technik-Fetischismus
alles zugrunde richtet. Landauf und landab, weltweit kann man das beobachten,
wird der Tanz um das goldene Kalb verstärkt, und besonnene Menschen
werden völllig zu Unrecht als Dummköpfe und Illusionisten oder
als realitätsferne Idealisten abgestempelt. Das nehmen wir nicht länger
hin. Wir werden uns dagegen wehren, und ich bitte alle Menschen, sich mit
uns in diesem Kampf zu solidarisieren.
Es geht nicht um Arbeitsplätze, und es geht auch nicht um gesellschaftliche
Notwendigkeiten. Denn statt richtige, vollwertige Arbeitsplätze aufzubauen,
werden ständig feste Arbeitsverhältnisse in Stunden-, Tages-,
Wochen- oder Monatsverträge abgeändert. Hier werden nicht Arbeitsplätze
geschaffen, sondern in der Wirklichkeit werden Arbeitsplätze vernichtet.
Die Gutmütigkeit vor allem junger Menschen wird mißbraucht,
indem man ihnen erzählt, daß sie ein Mehr an Freiheit durch
zunehmende Selbständigkeit gewinnen würden. Aber richtig ist,
daß sie auf längere Sicht ihre Freiheit total verlieren.
Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
glaubt diesem Unfug, der insbesondere aus der Wirtschaft zu hören
ist, nicht länger. Laßt Euch nicht ein X für ein U vormachen.
Ihr werdet sonst nur mißbraucht. Euer Vertrauen wird verraten, und
Ihr werdet verkauft.
Ich nenne Euch Beispiele: Was ist mit einem jungen Mann, der als sogenannter
‘free worker’ von Stau zu Stau zieht und plötzlich krank wird, ohne
sich vorher um eine Krankenversicherung gekümmert zu haben? Was ist
mit einem sogenannten ‘free worker’, der älter ist und plötzlich
arbeitunfähig wird; vielleicht einen schweren Unfall hat, von dem
jeder von uns betroffen sein kann?
Ich sage es Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Damen und Herren,
der Mann wird größere Schwierigkeiten haben als er sich das
jemals vorgestellt hat.
Und was ist mit seiner Rente, wenn er nichts eingezahlt hat? Auch in
dem Fall, liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wird der Mann bittere Tränen weinen. Allerdings: dann ist
es zu spät.
Meine Damen und Herren, wir müssen aktiv etwas dagegen tun, daß
uns die Wirtschaft nicht ins 19. Jahrhundert zurückkatapultiert, denn
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir mit Blick
auf den aktuellen Standard bereits wieder.
Die Menschen in der Breite verarmen mehr und mehr, träumen nur
noch vom schönen Leben und erwachen erst dann, wenn es für sie
endgültig zu spät ist. Wir müssen daran arbeiten, daß
es den Menschen bewußt wird, daß eine Gesellschaft nicht auf
die Vereinzelung des Menschen aufbauen kann. Wir Menschen sind zwar alle
Individuen, und jeder oder jede von uns ist eine Einzelpersönlichkeit,
aber nur in der vereinten solidarischen Gesellschaft gelingt eine gerechte,
für alle akzeptable soziale Gegenwart, liegt die anzustrebende Zukunft,
in der alle leben können, ohne ständig Angst haben zu müssen,
in der Armut versacken zu können.
Liebe Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, laßt
uns kämpfen. Tausende von verhungernden Menschen mahnen weltweit:
Die Stau-Events sind ganz und gar überflüssig; sie sind schädlich
und verrückt. Es muß ihnen ein Ende bereitet werden. Wir werden
im Verlauf des morgigen Tages eine Protestresolution an die hinter mir
zu erkennende Gesellschaft übergeben, und ich hoffe, daß möglichst
viele von Euch, liebe Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolleginnen,
noch unterschreiben werden. Unser Protest wird weltweit, aber vor allem
europaweit von mehr als 20 Verbänden, Gruppen und Gruppierungen sowie
Tausenden von Einzelpersonen getragen, und Tag für Tag haben wir Zulauf
an Stimmen. Macht auch Ihr mit, wir setzen auf Euch. Nach mir hört
Ihr Musik und dann wird mein Kolllege aus dem Raum Bayern sprechen. Vielen
Dank für Eure Aufmerksamkeit.“
Patrik und Linda haben wie gebannt zugehört. Keiner von beiden
hat ein Wort gesagt. Sie blicken sich gegenseitig an, und dann äußert
sich der Outlaw: „Na ja, reden kann der Mann viel. Aber das Leben ist nun
mal anders.“
Ein Nebenstehender hat den Satz gehört: „Das würde ich so
nicht sagen. Ich bin kein Gewerkschaftler, aber ich komme aus der ökologischen
Bewegung. Und daß die Natur durch die vielen Staus in ungeheuerlichem
Ausmaß geschädigt wird, darüber besteht wohl kein Zweifel.“
„Real strong. Sicherlich, Sportsfreund, gesund ist das kaum. Aber der
Mensch braucht nun mal auch das Vergnügen. Das beweisen doch die Millionen,
die mit dabei sind oder das Geschehen an den Bildschirmen verfolgen.“
„Sie nehmen mich nicht ernst. Sie wollen die Zerstörung unserer
eigenen Lebensgrundlagen wohl nicht damit als sinnvoll begründen,
daß wir die ständige Belustigung bei Stau-Treffs brauchen. Mit
Verlaub: aber das ist absurd.“
„Ich will mich hier nicht mit Dir herumstreiten, mein Freund. Das really
bringt nichts. Macht ihr, was ihr für richtig haltet, und wir, was
wir wollen. Dann haben wir beide und wir alle, was wir wollen.“
„Das ist auch eine Einstellung, aber keine besonders gute; weder ökologisch
noch sozial. Sie tun mir leid. Sie sollten mal über die Worte des
Sprechers von vorhin nachdenken. So unrecht hatte der Fachmann nämlich
nicht. Hier handelt es sich um größere Probleme, in weltweiten
Dimensionen.“
„Ganz recht. O.k., mache ich; ich denke mal drüber nach, wenn
ich Gelegenheit dazu habe und Dich das beruhigt, Sportsfreund. Real strong.
Aber bleib’ mal ‘nen Moment stehen. Du hast da eine Ameise auf Deinem Ärmel,
die läuft Dir zum Rücken hinüber. Moment, halt’ doch ruhig,
ich hole sie Dir herunter.“
„Blödsinn, Mann, was soll der Quatsch. Fummeln Sie nicht an mir
herum. Machen Sie das blöde Vieh tot. Schießen Sie es von mir
aus mit dem Finger ab. Das kann doch nicht so schwer sein. Und nennen Sie
mich nicht immer Sportsfreund. Ich bin nicht Ihr Sportsfreund. Hoffentlich
kapieren Sie wenigstens das.“
„Gut, gut. Doch - , still halten. Ich werde die Ameise retten. Sie
läuft mir auf den Finger. - Hier, jetzt habe ich sie. Klein, aber
fein. - Na also, hier geh auf den Bürgersteig; lauf schon weg, das
ist deine Chance, meine kleine Ameise. - Guck an, Sportsfreund, die hat
ihr lebensgefährliches Abenteuer hinter sich. Die kann jetzt was erzählen
aus der großen weiten Welt. - Bleib’ auch Du locker. Ciao. - Und
nach einem kurzen Blick auf die Uhr zieht Patrik dann Linda-Lady, die dem
Streitgespräch und der Ameisenrettung schweigend und aufmerksam zugehört
und zugesehen hat, ein wenig zur Seite: „Komm, wir müssen gehen. Unser
Date steht an. Wir sind schon 30 Sekunden über die Zeit.“
„Ja, hoffentlich lassen uns die Leute durch. Der Eingang zum ADACT
ist dort.“
Wider Erwarten gelingt es Patrik und Linda leicht, ins Haus zu kommen.
Niemand behelligt sie in irgendeiner Weise. Alle Protestierenden ebnen
ihnen geradezu den Weg, indem sie diesen freimachen und, sofern das nötig
ist, beiseitetreten.
Wie Pete am Morgen, kommen sie nach dem Betreten des Hauses durch das
große in Marmor gehaltene und auch sie beeindruckende Foyer. Es halten
sich überhaupt keine Gäste darin auf. Alles scheint wie ausgestorben
zu sein. Ob die Demonstration dafür ursächlich ist?
Der Informationsangestellte hinter der Theke ist ein Kollege des Mannes,
der Pete morgens behilflich war. Da Linda und Patrik ihr Einladungsschreiben,
das sie auf ihre Bewerbung hin erhalten hat, dabei haben, ist es für
sie keine Schwierigkeit, schnell das Büro des zuständigen Managers
zu finden. Zimmer 403 liegt im vierten Stockwerk, und das ist ihr Ziel,
das sie mittels Aufzug zügig erreichen.
Jesus ist zufrieden mit sich und der Welt: Morgen wird Pitters Jörn wieder bei ihm sein, und die Adresse von Erika wird er ebenfalls bekommen. „Jetzt werde ich zum Endspurt ansetzen“, mit diesem Gedanken kehrt er mit seinem Truck auf die Autobahn-Route zurück. Ihm ist es, als sei alle Müdigkeit aus seinen Gliedern verschwunden. Der 29jährige fühlt sich frischer denn je. Sorgfältig verstaut er die Streichholzschachtel, die ihm einen so wertvollen Dienst erwiesen hat, in der Brusttasche seines karierten Hemdes. Dann schiebt er seinen Stetson auf dem Kopf nach hinten und genießt die Musik aus dem Autoradio. „Let`s stau again“ wird gespielt. Ob Erika ihn genauso mag wie er sie? Diese Frage beschäftigt ihn mehr und mehr.
Die Begrüßung im Büro des Managers ist herzlich. Es
fällt Linda und Patrik jedoch auf, daß die Atmosphäre irgendwie
gespannt zu sein scheint. Ihr Gegenüber stellt sich als Dr. Ungemuth
vor, und mit der Entschuldigung, daß der zuständige Dr. Weinhold
leider bei einem anderen Termin verhindert sei, folgt das Eingeständnis,
daß er dessen Stellvertreter und in der Sache entscheidungsbefugt
sei: „Sie müssen verstehen, aber heute ist uns die peinliche Protestdemonstration
ins Gehege gekommen. Sie haben ja sicherlich einen Eindruck davon bekommen.
Wir sind schon froh, wenn man uns nicht die Fenster einschlägt. Bei
solchen Aktionen weiß man nie, wie sie ausgehen. Wir haben als Demokraten
und als demokratische Organisation viel Verständnis für die Meinungsfreiheit,
aber daß man sich ständig vor unserem Haus austoben muß,
das ist uns schon ein Ärgernis. Doch sei’s drum. Wir können es
nicht ändern. Zum Glück sind Sie unbeschadet zu uns gelangt.
Dr. Weinhold muß in der Sache an anderer Stelle unserem Protest Ausdruck
verleihen. Er läßt Sie herzlich grüßen. Und nun zu
uns, bitte schildern Sie mir Ihr Anliegen näher.“
Linda und Patrik nutzen ihrerseits kurz die Gelegenheit, sich dafür
zu entschuldigen, daß sie den ursprünglich vereinbarten Termin
am Tag zuvor aufgrund des unvorgesehenen Staus auf der Autobahn nicht mehr
geschafft haben. Ihr Gesprächspartenr, ein vielleicht 30- bis 35jähriger
Mann, hört interessiert zu und zeigt Verständnis, wechselt dann
aber schnell über zur Sache, nachdem er ihnen etwas zu trinken angeboten
hat, von dem beide Gebrauch machen. Und während Linda und Patrik an
ihrem jeweiligen Glas Saft nippen, bittet er sie nochmals, ihm ihre konkreten
Wünsche darzulegen.
Linda-Lady kommt zuerst auf ihr Anliegen zu sprechen, nachdem sie ihre
Situation und ihre Erfolge als Car-Dancerin dargestellt hat: „Ich möchte
mit meiner Kür ins Hauptfernsehprogramm, denn für Shows in der
Art gibt es meiner Meinung nach ein großes Interesse im Publikum.
Ich beabsichtigte, diesmal auf einem Ferrari zu turnen, und glauben Sie
mir, das bringe ich perfekt.“
Der Manager, der sie während ihres Vortrags genau beobachtet hat,
kann sich gut vorstellen, daß Linda im Fernsehen bei den Zuschauern
ankommen wird, denn Ausstrahlung und Aussehen sprechen eindeutig dafür.
Aber der Manager will mehr über sie wissen, und bereitwillig erzählt
sie ihm von ihren Auftritten bei verschiedenen Staus.
Die Idee, auf einem Ferrari tanzen zu wollen, ist dem Manager verständlich,
nachdem sie berichtet hat, was sie ansonsten an Modellen und Wagen bereits
ausprobiert hat, aber er hat einen Einwand: „Haben Sie bedacht, daß
Sie diesmal beim Bajuwarian-Stau tanzen werden? Ich will keine nationalen
Töne laut werden lassen, aber schließlich sind wir doch in Bayern.
Das müssen Sie bedenken. Bei uns mögen es die Menschen, wenn
man sich zu ihnen bekennt. Was halten Sie davon, zum Beispiel auf einem
Oldtimer aus München aufzutreten?. Ich denke dabei etwa an einen BMW
M Roadster oder an ein Alpina-B 8-Cabriolett. Das wären doch Fahrzeuge,
die Sie von der Bauart her ebenfalls benutzen könnten und die zudem
bei uns immer noch sehr beliebt sind.“
Linda ist nicht begeistert von dem Vorschlag: „Zum einen ist mir der
eine Wagen zum Turnen zu eng, zum anderen ist der andere zu groß
für die Kür. Ich bin darauf angewiesen, in einem optimalen Renner
zu agieren. Da müssen die Größe und Maße einfach
stimmen. Sicherlich. Vom Aussehen her kenne und schätze ich die beiden
Oldtimer, aber sie bieten mir nicht die richtigen Möglichkeiten zum
Turnen.“
„Wie wäre es dann mit einem Audi? Nein, das ist wohl auch nichts
für Sie. Aber ein Mercedes-Oldtimer der CLK-Klasse oder der SLK-Klasse
könnte hinkommen. Oder?“
Linda-Lady verneint: Das eine Fahrzeug sei ihr zu bieder im Outfit,
das andere zu eng in den Maßen. „Es kommt mir nicht darauf an, wie
die Wagen laufen oder wie sie gelaufen sind. Bitte verstehen Sie doch:
Ich muß darauf tanzen und mich darin wohlfühlen beim Turnen.
Das alles muß zusammenpassen. Das ganze Feeling muß da sein.“
„Was halten Sie dann von einem Porsche, meinetwegen ein 911er Cabriolett?
Das kommt Ihren Anforderungen vermutlich nahe. Oder irre ich mich auch
darin?“
„Nein, Sie irren sich nicht“, ist Lindas Einwand. „Aber optimal ist
der Renner für mich nicht. Beim Porsche, wie ich finde, ist der hintere
Teil für mich einfach zu kurz und zu abfallend zum Tanzen. Das ist
mir zu gefährlich. Ein falscher Tritt, und ich falle vom Fahrzeug.
So geht das doch nicht. Glauben Sie mir`s. Ich habe da meine Erfahrungen.
Das hat nichts damit zu tun, daß ausländische Fahrzeuge geeigneter
sind als deutsche. Mir ist das ganz egal, wo die Renner einmal gebaut worden
sind.“
Der Manager läßt nicht locker: „Gut, ich bin zwar nicht
ihrer Meinung, daß die Maße schlechter sind als bei anderen
Fahrzeugen, aber Sie sind die Tänzerin. Sie haben mich nicht überzeugt.
Jedoch zählt ihr Gefühl. Aber noch gebe ich mich nicht geschlagen.
Um noch einmal auf BMW zurückzukommen. Was Sie gerade geschildert
haben, das spricht doch dafür, daß Sie zum Beispiel auf einem
Z3 turnen könnten, wie Sie das ausdrücken. Ich erinnere mich
daran, daß dessen Heckpartie viel Platz bietet, und auf der Haube
gibt es ebenfalls genügend Möglichkeiten zum Tanzen. Wie ist
Ihre Ansicht dazu?“
Linda kann darauf nicht sofort antworten, denn der Wagen beziehungsweise
die Bezeichnung Z 3 ist ihr im Detail nicht so präsent im Kopf, daß
sie Vor- und Nachteile genügend abwägen könnte. Aber Patrik
springt für sie ein: „Sie haben recht. Ich kenne das Modell. Das ist
real strong. Tatsächlich, Linda, das wäre echt cool. Erinnerst
Du Dich, ich habe Dir ein solches Modell mal beim Bologna Capitale und
ein anderes Mal beim Hamburg Free Track gezeigt. Der eine Wagen war grün,
der andere blau. Hast Du’s?“
Linda-Lady denkt nach, dann dämmert es ihr: Ist das der Renner,
den sie zuerst damals in den USA gebaut haben? Ich glaube in den Südstaaten
war das.“
„Right, genau der ist es“, erklärt Patrik. „In South Carolina
wurde das Werk aus dem Boden gestampft. Die Kiste hat Anleihen am Typ 507
aus der Urzeit des Autobaus genommen. Sechs Zylinder, 321 PS. Ein Super-Schlitten
zum Tanzen, Linda.“
„Übrigens“, wendet sich der Outlaw an den Manager, „Sie haben
vorhin schon vom M-Roadster gesprochen, meinten Sie damit genau das Fahrzeug?“
„Ja natürlich“, ist die Antwort, und Patrik gibt sich Linda gegenüber
als Vermittler: „Das könnte klappen, vom Outfit her ist der Wagen
auch ok., überleg es Dir, Linda.“
Linda-Lady ist angetan von der Idee, aber noch nicht überzeugt
von den Vorzügen, den ein BMW einem Ferrari gegenüber bieten
soll: Ich möchte ja zustimmen, aber der Ferrari ist zumindest hinten
wesentlich günstiger zum Turnen. Das ist mein Gefühl, selbst
wenn ich mich irren sollte.“
Dann macht sie ihrerseits einen Vorschlag, an den Manager gewandt:
„Was halten Sie davon, wenn ich zwei Fahrzeuge benutze. Bei der eigentlichen
Show, wenn es um die Punkte und um die tänzerisch-sportliche Bewertung
geht, turne ich auf einem Ferrari, und für das Fernsehen führe
ich einen speziellen Kürteil oder auch die ganze Kür auf einem
BMW vor. Wäre das eine Lösung für Sie?“
Der Manager muß über Lindas Schlitzohrigkeit lachen: „Nein,
nein, so habe ich das nicht gemeint. Mir geht es nicht in erster Linie
nur um den BMW. Ein solcher Umbau, wie Sie ihn anregen, könnte das
Publikum mißverstehen. Dann ist es mir schon lieber, wenn Sie ganz
bei Ihrem Ferrari bleiben. Also gut, ich bin einverstanden. Sie turnen
auf einem Ferrari, und wir werden dabei sein. Die Einzelheiten klären
wir bis zum Stau ab. Sie müssen später noch den Vertrag unterschreiben,
Aber das alles hat Zeit. Das können wir in den nächsten Tagen
schriftlich regeln.“
Der Manager scheint zufrieden zu sein, obwohl er sich nicht hat durchsetzen
können. Lindas Einwände leuchten ihm ein: „Wenn sie so tanzt
wie sie argumentiert, dann wird sie Erfolg haben“, geht es ihm durch den
Kopf, während Patrik auf sich und seine Rolle beim Stau zu sprechen
kommt: „Ich habe eine Idee, und es würde mich interessieren, was Sie
davon halten. Darf ich Ihnen meine Überlegungen mal darlegen?“
Erika, Helen und Pete sind im Gespräch auf Jesus gekommen, und
die Münchnerin bedauert es wieder und wieder, daß sie sich nicht
die Adresse des 30jährigen hat geben lassen. „Ich verzeihe mir das
nie“, ist sie wütend auf sich selber, und Helen und Pete verstehen
ihren Unmut gut. Sie trösten sie
„Das ist einfach in dem gestrigen Trubel untergegangen“, meint Helen,
und Pete ergänzt: „Schon verrückt, aber so etwas passiert nun
mal. Das ist nicht mehr zu ändern. Aber irgendwie wird sich eine Lösung
auftun. Bleib’ locker, Erika. Ich bin zuversichtlich, daß Jesus Dich
suchen und finden wird. Spätestens beim Bajuwarian-Stau triffst Du
ihn wieder. Aber ich schätze, daß er noch eher bei Dir aufkreuzt.
Der Junge ist gewitzt und clever. Der läßt sich was einfallen.
Echt. Da bin ich mir sicher. Falls wir ihn treffen oder von ihm hören
sollten, vermitteln wir ihn an Dich weiter. Klaro.“
Der Manager ist einverstanden damit, Patriks Vorstellungen zu hören,
und Linda registriert, daß sich der Outlaw so sonderbar gewählt
ausdrückt: „Das ist sonst überhaupt nicht seine Art. Aber es
scheint ihm etwas daran zu liegen, daß sich der Manager die Zeit
nimmt und ihm zuhört.“
„Erzählen Sie“, fordert der Manager Patrik auf, und der 27jährige
beginnt: „Ich habe früher mal Trial gefahren und beste Kontakte zu
einer Trial-Truppe. Die macht auch Tanz auf Fahrzeugen, und bei einer solchen
Show könnte man einen alten BMW aus der Achter-Baureihe oder einen
Mercedes 600 oder 500 oder einen der großen Audis gut einsetzen.
Die Jungs, es sind übrigens auch zwei Mädchen dabei, treten gewöhnlich
als Achtergruppe auf. Bei den Ausmaßen, die diese Oldtimer haben,
können drei oder vier Rider bequem auf dem Dach und jeweils zwei auf
der Haube und auf dem Heckteil Übungen vorführen. Sie hätten
dann auch ihren deutschen Wagen im Programm. Eventuell könnte man
auch zwei solche Fahrzeuge verschiedenen Typs um ein drittes, das fest
steht, kreisen lassen, und die Trialtruppe könnte sogar im Zehnerpack
arbeiten. Sieben oder acht Rider turnen auf dem Dach des stehenden Wagens,
und die anderen fahren über die jeweils langsam kreisenden Fahrzeuge
im Rund hinweg. Das ist möglich und würde denen allen riesig
Spaß machen. Außerdem wäre das ungeheuer attraktiv für
die Zuschauer. Der ständige Wechsel von Fahrzeug zu Fahrzeug, über
die Wagen von der Front und von der Backside her sowie auch seitlich über
die Vehikel hinweg wäre eine Mordsgaudi, wie Sie hier sagen.“
Der Manager ist belustigt. Patriks Engagement gefällt ihm, obwohl
der Trialgedanke als solcher ihm nicht ganz geheuer ist. Zwar hat er davon
auch schon gehört, aber zwei Tanz-Vorführungen in einer Fernsehshow,
das ist ihm dann doch zuviel: „Ihren Vorschlag werde ich mir allerdings
merken. Vielleicht können wir eine derartige Vorführung bei anderer
Gelegenheit mal aufnehmen. Wir hatten solche Darbietungen bisher noch nicht
in unserem Programm. Ich habe jedoch grundsätzlich Interese daran.
Ich glaube, daß auch Dr. Weinhold sich dafür erwärmen könnte.
Ich werde ihm das ebenfalls punktgetreu vortragen.“
Linda-Lady kann Patriks Meinung nur bestätigen: „Solche Shows
sind wirklich sehenswert und lassen sich sicherlich gut im Fernsehen präsentieren.
Mir gefallen sie auch jedes Mal.“
„Was machen Sie eigentlich bei den Staus?“, möchte der Manager
von dem Outlaw wissen, und Patrik berichtet, daß er im großen
und ganzen meistens als Verkäufer auftreten würde. Aber er hat
auch schon Karten für bestimmte Vorstellungen verkauft, Prospekte
verteilt oder als Ordner gearbeitet: „Was eben anfällt und mir das
nötige Kleingeld einbringt, das mache ich. Ich bin Mädchen oder
Junge für alles.“
Der Manager ist beeindruckt: „Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie
mit Linda durchweg zusammen bei Staus. Sie sind dabei dann getrennt tätig,
aber ansonsten ein Paar. Sehe ich das korrekt?“
„Völlig korrekt“, ist die knappe Antwort von Patrik, und Linda-Lady
fügt hinzu, daß sie, wenn es möglich wäre, aber gern
auch mal zusammen auftreten würden: „Beim Car Dance kann ich Patrik
jedoch nicht gebrauchen. da stört er nur.“
Der Manager nimmt den gedanklichen Ball auf: „Sicher, ich könnte
es mir auch vorstellen, von ihnen gemeinsam ein Feature zu drehen. Die
Betonung würde dann nicht auf dem Tanzen liegen, sondern man müßte
die Flexibilität in den Vordergrund stellen, mit der Sie Ihren Alltag
gestalten. Ich werde mir eine solche Geschichte mal durch den Kopf gehen
lassen. Vielleicht können wir später darauf zurückkommen.
Das ist allerdings für mich keine aktuelle Sache. Momentan bleibt
es beim Car Dancing; wie abgemacht! Alles Weitere werde ich mit Dr. Weinhold
besprechen.“
Linda und Patrik haben das Gefühl, daß der Manager das Gespräch
nun zu beenden wünscht, und beide verabschieden sich ab, nachdem ihnen
der ADACT-Mann nochmals versichert hat, daß er ganz offen bezüglich
ihrer Ideen sei.
Als sie das Haus verlassen haben, ist von der Protestdemonstration
nichts mehr zu sehen. Der Outlaw schaut auf die Uhr: Das ganze Gespräch
hat etwa 45 Minuten gedauert, und von Linda ist eine Last gefallen: „Die
Sache mit dem Fernsehen hat mich schon gestreßt, obwohl mich sonst
kaum etwas aus der Ruhe bringen kann. Jetzt nachträglich kann ich
es Dir ja sagen, Patrik. Aber darauf habe ich so lange gehofft. Jetzt wird
es endlich wahr. Ich komme in die Hauptsendung vom Fernsehen. Das ist meine
große Chance. Den Erfolg müssen wir zu Hause noch feiern.“
„Warum erst zu Hause?“, fragt Patrik zurück.
„Ist besser so“, entscheidet Linda, und sie blickt ihn dabei glücklich
lächelnd an. „Gell.“
Auch die Vorstellung, beim Bajuwarian-Stau alle Freunde vom München-Besuch
wiederzutreffen, ist schön.
In Erikas Wohnung haben die beiden Frauen genügend Zeit, sich zu
unterhalten. Denn Pete steht derweil unter der Dusche und genießt
das frische Naß.
Helen kennt ihre Freundin, und sie kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß jene irgendwie ein bißchen Angst vor einem Wiedersehen
mit Jesus zu haben scheint. Auch wenn Erikas momentanes Verhalten darauf
nicht unmittelbar schließen läßt.
Die Tatsache, daß Erika, wenn auch versehentlich, sich nicht
die Adresse von Jesus hat geben lassen, spricht für sich. Helen hat
das untrügliche Gefühl, daß Erika ihren Zuspruch braucht.
Denn sie weiß aus vergangenen Tagen, daß jene schwer daran
zu tragen hatte, als ihr damaliger langjähriger Freund plötzlich
mit einer anderen Freundin auftrat und später wie über Nacht
ganz aus Erikas Blickfeld und quasi von der Bildfläche verschwand.
Bindungsängste hat Erika schon des öfteren geäußert
oder gezeigt, und die Freundin hat das jedes Mal bemerkt. Denn bei Staus
gibt es vielerlei Gelegenheiten, nette Mitmenschen kennenzulernen. Helen
will jedoch nicht schlafende Hunde wecken. Sie könnte sich ja schließlich
auch irren. Deshalb ist sie sehr vorsichtig, als sie das Thema „Jesus“
auf einem Umweg durch die Blume anspricht: „Ich bin mir ziemlich sicher,
daß Jesus Deine Adresse oder Deine Telefonnummer ausfindig machen
wird. Ich glaube fast, daß er Dich mehr als nur mag. Wie er Dich
immer angesehen hat, das war schon auffallend.“
„Ja, das Gefühl hatte ich auch. Er ist ein besonders netter Mensch.
Aber kannst Du es Dir oder mir erklären, warum wir beide es vergessen
haben, unsere Adressen auszutauschen? Das ist doch ein Zeichen. Könnte
es nicht sein, daß er genauso viel Angst vor einer festeren Bindung
hat wie ich?“
Nun hatte Erika es ausgesprochen, und Helen erkannte ihren Ansatzpunkt
zu einer Vemittlung, die sie als Freundin für nötig erachtete:
„Ich glaube schon, daß das einem Zeichen gleichzusetzen ist. Aber
in der Bewertung eines solchen Vorgangs gibt es manche Auslegungsmöglichkeiten.
Ich meine, daß Du das positiv sehen solltest. Ihr wart beide aufgrund
Eurer plötzlichen gewissen Verliebtheit überaus aufgeregt. Und
in einem solchen Zustand denkt man nicht immer an alles. Nimm also an,
daß lediglich ein bloßes Versehen vorliegt. Andererseits könntet
Ihr Euch beide aber auch innerlich davor gefürchtet haben, den gleichsam
entscheidenden Schritt zur nächsten Vereinbarung zu tun und um die
Adresse zu bitten oder die eigene zu übergeben. Das könnte auch
sein, würde aber meines Erachtens der Liebe, wenn ich das so sagen
darf, keinen Abruch tun. Ihr mögt Euch doch beide, und nur darauf
kommt es an. Darauf könntet Ihr aufbauen. Auf eine wirkliche Liebe
trifft man nicht jeden Tag, und vielleicht ist es für Euch beide die
wirkliche Liebe. Das alles solltest Du bedenken, meine ich, ohne mich aufdrängen
zu wollen. Aber ich möchte Dir helfen, falls Du meinen Rat brauchst.“
„Danke, Helen. Mir sind heute schon so viele Gedanken durch den Kopf
gegangen, daß ich kaum noch weiß, wo mir der Sinn steht. Liebt
er mich? Liebe ich ihn? Will ich ihn wirklich wiedersehen? Will er mich
wirklich wiedertreffen? Da alles sind Fragen, denen ich nicht ausweichen
kann, die ich aber zumindest mir beantworten will.“
„Du ringst mit Dir, Erika, aber zermarter Dir nicht unnütz das
Gehirn. Sei optimistisch. Ich glaube fest daran, daß sich alle Deine
Probleme beim nächsten Zusammentreffen lösen. Jesus ist ein ungewöhnlicher
Mann, er ist wahrscheinlich genau der richtige für Dich. Das habe
ich im Gefühl. Du bist stark, er ist stark, gemeinsam könntet
Ihr noch stärker werden.“
„Meinst Du?“
„Ja, das glaube ich, das hoffe ich für Dich. Liebst Du ihn denn?“
„Ich weiß das nicht. Ich kann das nicht sagen. Mir ist so, als
ob ich ihn lieben würde, aber andererseits kommen mir immer wieder
Bedenken. Diese Gedanken werde ich einfach nicht los. Die halten mich wie
gefangen.“
„Woran denkst Du konkret? Oder möchtest Du darüber nicht
reden?“
„Doch, natürlich. Wir können darüber sprechen. Mit wem
sollte ich sonst reden, wenn nicht mit Dir. Mit meiner Schwester kann ich
das, wie Du weißt, überhaupt nicht. Die würde mir nur abraten.
Aber solche Redensarten möchte ich jetzt nicht hören. Ich spüre,
daß ich mich entscheiden muß, aber ich möchte diesmal
die hoffentlich richtige Entscheidung treffen.“
„Du meinst, daß Deine Schwester Dir nicht raten kann, weil sie
sich selbst keinen Rat weiß und in eigenen Schwierigkeiten ist. Beunruhigt
Dich das?“
„Ja sicher, ich habe Dir das irgendwann schon mal erzählt. Vielleicht
erinnerst Du Dich daran. Helga ist zwei Jahre älter als ich und vor
ungefähr einem Jahr von ihrem Mann Berthold geschieden worden. Das
war damals fast ein Drama, und Helga ist bis heute nicht darüber hinweg.
Wenn ich sie manchmal in Starnberg besuche, sie wohnt dort seitdem, reden
wir fast nur über unser vergangenes Glück. Sie hat ihren Mann
verloren, obwohl sie ihn eigentlich immer noch mag, und ich bin, wie Du
ja weißt, meinen Freund losgeworden. Was mich betrifft, habe ich
es überstanden. Ich hoffe das zumindest. Aber meine Schwester kommt
einfach nicht darüber hinweg und spricht das Thema immer wieder an.
Das ist ungeheuer nervend, auch wenn ich als Schwester alles für meine
Helga tun möchte und tun würde. Aber ich möchte nicht ständig
davon belastet werden. Irgendwann muß ich doch einmal wieder mit
neuen Hoffnungen an ein Verhältnis herangehen. Oder bin ich in der
Hinsicht zu egoistisch?“
„Nein, das bist Du sicherlich nicht. Das hat mit Egoismus nichts zu
tun. Das ist ganz natürlich, daß Du wieder Deine ruhige Abwägung
suchst. Ich möchte Dich sogar darin bestärken. Jesus könnte
Dein neuer ruhender Pol werden.“
„Ich glaube das auch, und ich freue mich, daß Du das ebenso siehst.“
„Nur immer mit der Angst, irgendetwas falsch machen zu können,
kann man auf Dauer nicht glücklich werden. Du hast allen Grund, Erika,
Dich auf das neue Zusammentreffen mit Jesus zu freuen. Glaube es mir, ich
spüre das. Selbst Pete, verzeihe mir, aber wir haben uns natürlich
auch darüber unterhalten, ohne Schlechtes über Euch reden zu
wollen, war meiner Meinung, daß Jesus sich ungewöhnlich stark
zu Dir hingezogen gefühlt hat. Das haben alle anderen bemerkt, und
wir alle irren kaum.“
„Hoffentlich. Aber ich spüre, daß ich jetzt sicherer in
meinem Gefühl geworden bin. Deine Gedanken haben mich wirklich beruhigt.
Es ist immer schwierig, in einer solche Situation den Anfang zu finden,
aber zum Glück bist Du darauf eingegangen. Ich weiß nicht, ob
ich von mir aus über meine Befürchtungen mit Dir gesprochen hätte,
wenn Du nicht den Faden geknüpft hättest. Manchmal bin auch ich
schwächer als ich es nach außen hin vorgebe. Die Arbeit im Betrieb
nimmt mich oft so mit, daß meine ganze Kraft dabei draufgeht. Oft
habe ich schon darüber nachgedacht, woher ich neue Kraft schöpfen
soll, wenn nicht aus dem Erfolg. Aber bislang ist mir ja nichts anderes
übriggeblieben, als den Erfolg bei der Arbeit oder in der Arbeit zu
suchen und zu finden. Das ist wie ein Kreislauf: Ich will zwar den Erfolg,
aber ständig nur für die Heirat anderer dazusein, das befriedigt
auf Dauer auch mich nicht.“
„Sei beruhigt, Erika, alles wird gut. Du wirst es sehen. Vielleicht
ruft Jesus noch heute abend an, eventuell morgen oder übermorgen.
Auf jeden Fall: Er wird Dich erreichen, und wir alle werden uns spätestens
beim Bajuwarian-Stau wieder treffen. Ich freue mich schon darauf, und von
Pete weiß ich das ebenso. Wir werden mit Sicherheit zusammen dabei
sein.“
„Da freut mich für Dich und für Euch. Helen. Wenn ich Dich
nicht hätte. Ich fühle es jetzt, ich werde sicherlich auch mit
Jesus kommen. Wir werden dann zusammen mit Linda und Patrik ein rauschendes
Fest feiern. ‘Let’s stau again’, so heißt doch das Lied, das Patrik
so mag. Das wird unser gemeinsames Motto sein. Darauf stoßen wir
nachher noch an.“
„Vielleicht auch zweimal?“
„Oder dreimal. Auch das, Helen. Wenn es sein muß. Ich mache heute
alles mit. Der Tag ist wieder schön. Schau mal nach, ob Pete nicht
bald fertig geduscht hat. Wir werden noch einiges zusammen erleben. Mit
ihm hast Du auch eine gute Wahl getroffen, meine ich.“
„Ja, das glaube ich auch, Erika. Wenn es nicht so grotesk wäre,
würde ich jetzt sagen, daß der Bajuwarian-Stau für uns
alle zum Liebes-Stau wird. Aber, Du lachst, in dem Zusammenhang ist Stau
wirklich nicht angebracht. Trotzdem, wie Du schon sagtest: ‘Let’s stau
again’. Auf ein Neues!“
-Ende-
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