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Kapitel: |
1. Kapitel
Let´s stau tonight, gell!
Im FT X2000 herrscht gleichermaßen Ruhe wie geschäftige Hektik.
Der Schnellzug, der mit Tempo 300 von Hamburg nach München unterwegs
ist, hat gerade das Land Niedersachen hinter sich gelassen und rast hinter
Hannoversch-Münden auf den Schienen in die Kasseler Berge hinein.
Noch wenige Stunden, dann wird er über Stuttgart sein Hauptziel erreicht
haben.
Einige Menschen im Abteil unterhalten sich, andere lesen, wiederum
andere sind mit Arbeit beschäftigt, schreiben am PC oder wühlen
in Unterlagen, und hin und wieder sieht man einen Kellner die Gäste
bedienen.
Pete, der richtig Peter heißt, sitzt in einer Ecke in Fahrtrichtung
im Abteil und schaut aus dem Fenster, sieht die Landschaft an sich vorüberfliegen.
In Gedanken ist er bereits in München, wo er einen Termin hat. Der
30jährige gelernte Kameramann will einen neuen Job antreten.
Das Jahr 2030 hat seine Bewährungsprobe in den ersten sechs Monaten
bestanden. Der Juli hat begonnen, und das Wetter ist herrlich:
„Tonight, let’s stau“. Dröhnend vibriert auf dem Parkplatz einer
Autobahnrastanlage in Stuttgart der neueste Hit aus einer Oldtimer-80-Watt-Recorder-Anlage
des SLMX 680 GP. Patrik, der stolz darauf ist, sich hinten nur mit einem
einfachen „k“ zu schreiben, wartet nun schon geschlagene 14 Minuten auf
Linda-Lady, die er vor 14 Tagen beim 30er-Event am Kamener Kreuz letztmals
gesehen hat.
Stolz wie ein großer Vierender sitzt er auf seinem AM General,
der noch aus dem letzten Jahrhundertjahr stammt. Sein Hummer, wie der 8-Zylinder-Diesel
früher genannt wurde, ist immer noch eine Augenweide; zwar über
30 Jahre alt, aber mehr als ein Kasten auf Rädern. Wenn der V-Motor
mit Vorkammer-Einspritzung und Turbolader seine 6,5 Liter Hubraum brummen
läßt, dann kann man es erahnen, daß 195 PS oder 145 kW
das fast 4,7 Tonnen schwere Mobil locker über jeden Hügel bringen.,
Patrik liebt seinen Viertürer mit Hardtop, und wenn er bei Freunden
von seinem HMMWV spricht, dann gehört die Erklärung, daß
die Buchstaben für „high-mobility multipurpose wheeled vehicle“ stehen,
selbstredend dazu.
Natürlich muß Patrik jedes Mal auch auch die ganze Story
erzählen: Die AM General Corporation entstand 1970 aus der Kaiser-Jeep
Corporation als Tochter von American Motors, und bis 1981 war das Fahrzeug
ausschließlich für die US Army konstruiert und gebaut worden.
Erst ab 1992 wurde der AM General an Zivilisten verkauft. Es gab den Viertürer
auch mit Softtop, als Pritsche oder als Station oder als zweitüriger
Pick up. Seit 1985 hatte man über 100.000 Stück davon produziert.
Und jetzt saß Patrik selbst auf der von ihm selbst gestylten Vielzweck-Waffe,
wie er das Allrad-Fahrzeug mit 40 Zentimeter Bodenfreiheit sieht
Sein Oldie-Hummer 6,5 D/DT ist für jeden Fan faszinierend, aber
die vollständig blattgoldverzierte Haube macht das ansonsten schwarze
Monster zu einem Super-Ereignis.
Auch Linda-Lady hatte zuerst den Hummer geblickt, und erst dann von
Patrik Kenntnis genommen. „That’s life“ sagt Patrik selbst in seinem Euro-Deutsch,
das früher als neudeutsch bezeichnet wurde. Aber das ist lange her,
die Zeiten haben sich gewandelt. Wer auf sich hält und nicht von gestern
ist, talked Euro, und damit ist nicht der Euro als Währung gemeint.
Wo Linda nur bleibt? Die Lady ist eine eine echte Free-Bikerin. Wenn
sie auf ihrem silber-schwarzen Fat Boy angeritten kommt, dann schnalzen
Kenner mit der Zunge. Aber nicht nur, weil die Harley-Davidson noch erkennbar
ein Jahrgang 1997 ist. Beim Anblick von Linda-Baby verliert jede Motorcycle
Jamboree ihren Reiz.
Der FT X2000 rollt derzeit schon auf Kasseler Höhen. Per E-Mail
hatte sich Pete vor seiner Abreise aus Hamburg in den Süden in München
angekündigt. Per Handy wird er aus dem Zug heraus letzte Instruktionen
etwa in Höhe Ulm oder Regensburg einholen. Pete lehnt sich entspannt
im Sessel zurück und streckt die Beine weit von sich, tief unter den
Tisch. Ihm gegenüber sitzt aufrecht eine vielleicht 25jährige
Frau, die seit Hannover unentwegt in einer Zeitschrift liest, die eindeutig
als Modejournal auszumachen ist.
Pete räuspert sich, unternimmt den vielleicht zwanzigsten Versuch,
mit der jungen Frau in Kontakt zu kommen und einen Blick von ihr zu erhaschen.
Aber bislang hat das nicht geklappt. Zwar hat die Dame schon einige Male
kurz auf- und zu ihm herübergeschaut, aber Interesse hatte die Frau
an ihm nicht signalisiert. Oder doch? Pete war sich nicht sicher, ob die
blonde Schönheit ihm gegenüber nur einfach schüchtern war.
Bei Linda-Lady, auf die Patrik mit Spannung wartet, war das keine Frage,
eher das Gegenteil. Sie ist eine 22jährige Leder-Maid. Lange schwarze
Haare, body-gepierct, leather-dressed, auf hohem Fahrwerk; mindestens 170
Zentimeter groß, vielleicht 48 Kilo schwer, oder leicht, wie’s gefällt,
und Patrik ist gleich auf die Car Dancerin abgefahren.
Das war Beschleunigung von null auf hundert in nullkommanix.
„Also echt, jetzt könnte Linda-Lady aber rantrailen“. Patrik,
der von seinen engsten friends nur „Outlaw“ gerufen wird, weil er vor Jahren
mal ein Outlawbike gefahren hat, denkt an den Big-Stau am Kamener Kreuz
zurück: „Riesig. Das war eine Maxi-Performance, eine Outlandparty
mit Ballermann-Character. Nix nur Memorial oder Thunderdays, kein Halloween-Unforgiven,
kein Ghostridercostum, das war echtes Freesurfen.“
Rund eine halbe Million Biker, Triker, Dragster-Fans, Station-Cars,
Pick up Riders, Sport-Cars und sonstige PS-Boliden aller Klassen und Typen
hatten sich „assembled, wie Patrik das formuliert. Ganz klar: auch Tausende
von Trucks, Wohnmobilen und Wohnwagen aller Art waren dabei gewesen.
Und mittendrin hatte ihn Linda-Lady angemacht; tatsächlich, sie
hatte ihn angelabert, was der Hummer wohl an Höchstgeschwindigkeit
noch bringen würde. Als ob das interessant wäre! Patrik kann
nur grinsen, wenn er sich daran „remembered“. Sicherlich, ein Panzer, wie
es der Hummer nun mal ist, bringt es zwar noch auf satte 125 Stundenkilometr,
möglichweise bei Rückenwind auch auf 130 oder sogar auf die 134
km/h, wie sie in den vergilbten „Zulassungspapers“ stehen, aber das ist
doch Schlamm von gestern,. „Bei einem Fat Boy fragt doch auch niemand nach
der Maxisause.“ Für Patrik ist es naheliegender, wenn ihn Linda-Lady
auf das „Design, das Monsterappeal“, oder zumindest auf seinen Querlenker
oder auf den Stabilisator hin angequatscht hätte. „Aber naja, Weiber“,
denkt der Outlaw, der kein Macho, sondern mehr sportiv-softtail ausgelegt
ist
Fast zwanzig Minuten sind nun vorbei, und von Linda-Lady noch immer
keine Spur. „Ob das Mädchen Difficulties hat?“ Patrik fragt sich das,
schaut zum Himmel hoch, in die Sonne hinein. Kneift die hinter einer bemerkenswert
dunklen Sonnenbrille verborgenen Augenlider zusammen und leckt sich mit
der Zunge über die Lippen. Sein Mund bleibt leicht geöffnet,
als ob er besser hören wollte. Doch Linda-Baby „isn’t coming“, wie
Patrik feststellt.
Derweil im Zug. Pete wollte bei seinem erneuten Annäherungsversuch
auch zu einem Erfolg kommen. „Entschuldigen Sie“, sprach er die Schönheit
vorsichtig an, „darf ich einen Blick in ihre Motorfahrzeugbroschüre
werfen?“
Pete deutete dabei auf ein Heft, das die Frau vor sich auf dem Tisch
liegen hatte. Noch war es ganz und gar unbenutzt. Die Beschäftigung
mit dem Modejournal hatte die junge Dame völlig in Beschlag genommen.
Die Blonde schien von der Anrede irgendwie verwirrt zu sein, blickte
schnell über ihr Heft zu Pete herüber, schaute kurz auf die Illustrierte
vor sich auf dem Tisch, warf aber dann mit einem freundlichen Lächeln
einen längeren Blick auf den Fragenden. „Bitte, bedienen Sie sich“,
waren die einzigen Worte, von einer einladenden Handbewegung unterstrichen,
ehe sie sich wieder ihrem Journal widmete.
Pete war sich nicht sicher: Hatte sie sein Interesse bemerkt? Immerhin:
Ihre großen dunkelbrauen Augen hatten ein leichtes Blitzen erkennen
lassen. Zumindest glaubte Pete das festgestellt zu haben. Und nochmals
schaute sie kurz zu ihm herüber. Innerlich lachte der Kameramann auf.
„Sie hat dich registriert“, ging es ihm durch den Kopf, und währenddessen
schlug sie ihre Beine übereinander und blätterte mehrmals in
ihrem Heft, als ob sie nicht wußte, wohin sie schauen sollte. „Jetzt
mußt du nachfassen“, sagte sich Pete, richtete eine weitere Frage
an die Schönheit. „Entschuldigen Sie nochmals. Aber ich habe noch
eine Frage. „Ist das Blatt ganz aktuell?“
Die junge Frau schaut auf und zu ihm herüber.
Patrik hat derweil Hunger und auch Durst. Ein paar winzige Tropfen auf
seiner Stirn sind ein Beleg dafür, daß es heiß ist. Der
Outlaw fährt sich mit seinem Handrücken über den Haaransatz,
berührt leicht die Stirn und wischt sich den Schweiß von den
Fingerkuppen. „Bestimmt 30 Grad“, sinniert Patrik und denkt an Linda-Lady
zurück.
„Ne real interessante Mam“. Wenn die 22jährige lacht und tanzt,
dann sind immer alle „happy“. Linda-Baby nennt sich Car Dancerin. Dieser
neue Beruf, den es jetzt aber schon einige Jahre gibt, ist früher
mal von Table Dancerin abgeleitet worden. Vor Jahrzehnten, ja noch im letzten
Jahrhundert, haben die Frauen für Geld vorwiegend in Kneipen oder
sogenannten Discos, ganz früher sprach man von anrüchigen Etablissements,
auf Tischen getanzt, heute lassen sie ihre Körper auf Autos mehr oder
weniger kreiseln und fliegen. Manche Mädchen sind dabei ganz bekleidet,
etwa wie Linda, die nur in Voll-Ziegen-Leder auftritt, andere tragen Schmuck
am Körper, und wiederum andere halten es für anstrengend, beim
Tanz einen leichten Schurz tragen zu sollen; sie treten entsprechend schlicht
nackt auf. Und wer sich etwas dabei denkt, hat selber schuld.
Dabeisein ist fast alles. Wenn zur Jubilee über Radio, Fernsehen,
über Zeitungen oder über das Internet gerufen wird, dann sind
alle Motorisierten dabei. Stau-Events sind das Nonplusultra, der Mega-Mix,
darüber geht nix. Das sind Meetings, bei denen selbst langsam vorbeifahrende
abgekämpfte Trucker, die wenig Zeit mitbringen, Tränen in den
Augen haben.
Solche Free-surf-trails sind Communication Software. Wer sich einklickt,
kann kräftig downladen und bekommt quasi die ganze World auf die eigene
Festplatte. Dessen ist sich auch Patrik sicher, der mit seinen nunmehr
27 Lebensjahren seit fast einem Jahrzehnt auf Achse und auf der „route“
ist.
Eigentlich war er schon überall dabei, ob beim Berlin-Stau, beim
Köln/Düsseldorfer-Meeting, beim Nürnberger Memory, beim
Big-Stau am Hermsdorfer Kreuz, bei der Frankfurter Outlandparty, beim Hannover-Surf-Free,
beim Stuttgarter Mega-Stau, beim Münchener Maxi, oder nicht zuletzt
in Old Germany beim Bajuwarian-Stau.
„Exakt der Bajuwarian-Stau, der ist immer eine Klasse für sich“,
erinnert sich Patrik.
Was da im Autobahn-Bereich zwischen den Grenzübergängen nach
Österreich und München abgeht, das ist grundsätzlich ein
„Highlight“, wie es nur ein Outlaw nachvollziehen kann. Eine Million „Rider“
oder zwei Millionen „Rider“, Patrik schätzt, daß es im letzten
Jahr so viele Gäste gewesen sein dürften, und im September „werden
es wohl noch mehr werden“.
Man muß sich das vorstellen: Die ganze Autobahn wird auf dem
gesamten Streckenabschnitt für drei Tage von Freitag bis Sonntag in
einer Fahrtrichtung gesperrt, und der übliche Fahrverkehr darf in
dem Bereich nur auf jeweils einer Spur auf der gegenüberliegenden
Fahrbahn „slow“ passieren. Auf den stillgelegten Fahrspuren und auf der
Standspur aber ist in dem Zeitraum der Bär los. Es gibt gewissermaßen
nichts, was es nicht gibt.
Wer zuerst anrollt, parkt oder „finished first“. Die Organisatoren,
die sich um den ADACT als Hauptveranstalter herum plazieren, sind gleichzeitig
Manager und Teilnehmer zugleich. Vom Riesenrad bis hin zum Kettenkarussell,
Würstchenbuden und allerlei sonstigen Ständen ist alles zu finden.
Das Münchner Oktoberfest ist gleichsam in die Länge gewachsen,
und selbstverständlich fließt kühlendes Naß in jeder
Form zu Tausenden von Hektolitern.
Auf Dutzenden von Leinwänden, die längs der Strecke auf über
100 Kilometern Länge aufgestellt werden, wird übertragen, was
sich vielleicht zehn oder 20 Kilometer entfernt abspielt. Das Ganze
ist wie Kino, nur „outland und free“.
Musikgruppen aus vielen Ländern der Welt spielen zu Hunderten
bei dem Meeting, und wer erfrischt und ausgeruht auf seinem Autopolster
sitzt, kann die Auswahl darüber treffen, wen er oder sie oder beide
zusammen hören wollen.
Die Leinwände werden praktisch wie Fernsehapparate genutzt, und
es läßt sich von einer Musikgruppe zur nächsten und zum
weiteren Bild zappen. Das sind zum Teil Videoübertragungen, die technisch
schon lange möglich sind. Mit einem Klick wird garantiert, daß
die Nebensitzer das individuell gewählte Programm nicht mitzuhören
brauchen.
Gleichzeitig werden auf anderen transportablen Leinwänden Filmstreifen
gezeigt, die in Hollywood entstanden sind, und auf wiederum anderen Wänden
kann man sich bei Bedarf ins übliche Fernsehprogramm und in alle Kanäle
reinzappen. Ganz wie’s beliebt.
Patrik sieht sich bei solchen Meetings fast immer das Car dancing an,
das seine Linda-Lady auch betreibt. Der Outlaw ist sich sicher: das ist
im Angebot der „Highpoint“. Aber wo bleibt Linda? „Jetzt sind bereits 25
Minuten vergangen. Da stimmt doch irgendwas nicht!“, meint Patrik., schaut
nach vorn, nach hinten, nach rechts, nach links, aber „no figur, no mam“.
Im Zug stellt die junge Frau eine Gegenfrage an Pete: „Haben Sie etwas
gefragt?“
„Ja“, nickt Pete und schaut ihr dabei so tief in die Augen, wie es
nur möglich ist. „Ich möchte gern wissen, ob das Heft die neueste
Nummer ist. Es scheint brandneu zu sein.“
„Sicher ist es ganz neu. Ich habe das Heft erst vorhin noch auf dem
Bahnhof gekauft. Warum fragen Sie danach?“
„Jetzt hat sie angebissen“, denkt Pete und antwortet: „Im neuesten
Blatt soll auch ein größerer Bericht über Oldtimer stehen.
Das habe ich in der Fernsehwerbung gehört. Mich interessiert es nun,
ob das das neueste Heft ist.“
„Ja, das ist es“, sagt sie mit einer dunklen, sehr weiblichen Stimme
und lädt Pete erneut zum Lesen ein. „Bitte, Sie dürfen es nehmen.
Ich glaube, daß der Bericht, den Sie meinen, irgendwo in der Mitte
des Blattes steht. Soll ich mal nachschauen? Vorn steht das doch immer
drin, was der Inhalt zu bieten hat. Soll ich nachsehen?“
Pete hat es geschafft: Das Gespräch kommt in Gang. Sie hat ihre
anfängliche Zurückhaltung offenbar aufgegeben. „Jetzt muß
ich am Ball bleiben“, schaltet der 30jährige, zieht dabei seine Beine
zurück, setzt sich aufrecht, lehnt sich dann leicht vor, blickt sie
unverwandt an und murmelt. „Ja danke, das wäre nett. Aber ich kann
auch selbst nachschauen. Aber wenn Sie das wollen. Freut mich.“ Dabei lächelt
Pete, und er bemerkt mit wachsender Begeisterung, daß sie zurückstrahlt.
Patrik wartet noch immer. Der Bajuwarian-Stau kehrt in die Erinnerung
zurück. „Sagenhaft, was da zur Tränke fährt“, sinniert der
Outlaw und kann es kaum glauben, daß es im letzten Jahrhundert solche
„Communications-Treffs“ noch nicht gegeben haben soll. Sein Vater hat schon
mehrfach davon „getalked“, aber „believen kann ich’s kaum“, hat Patrik
stets in in „Euro“ verkündet.
„Damals haben die Leute Staus noch verflucht, überhaupt nicht
gezwitscht, daß Staus riesige Meetings sind“, überlegt Patrik.
„Irgendwie haben die erst nach der Jahrhundertwende geschnallt, wie man
richtig Kasse machen kann und den Peoples auch noch neue Jobs ins Dreamen
mailed“.
Der Autlor kommt in seine History: „Von Deutschland über Frankreich
bis England und was weiß ich wohin sind damals die News gefaxt worden,
und dann lief’s online über das Internet. Mann o Mann, da war Musik
drin.“ Quasi über Nacht waren die Stau-Events „top“.
Es hatte mit dem Bajuwarian-Stau begonnen, in Berlin funkte es darauf,
die Leipziger zogen nach, die Franfurter wollten nicht abseits stehen,
und nach dem London-Meeting folgten der Paris-Drive, das Rom-Moto-Free,
das Italian-Angels und viele weitere Big-Partys, unter denen der Wiener-Ring
überdimensionale Ausmaße hatte.
Wo es in ganz Europa ein Autobahnkreuz oder mehrere Autobahnstränge,
die an irgendeinem Punkt Verbindung miteinander haben, gab, waren Stau-Meetings
fortan ein Muß.
Selbstverständlich sind die Routen am besten staugeeeignet, die
mindestens vierspurig oder sechsspurig und mehr ausgebaut sind. Die
USA und Japan lassen in der Hinsicht grüßen, obwohl das Euroland
das Mekka der Free-Party-Anhänger zu sein scheint. Was etwa in Deutschland
früher als grauenhafte Enge aufgefaßt wurde, mausert sich nun
zum „Home of the road“, wie Patrik das beurteilt.
Bei jeweils drei Fahr-Spuren in einer Richting stehen zwei zum langsamen
Passieren zur Verfügung, und insgesamt vier können beliebig besetzt
werden. Selbst Großgeräte wie Achterbahnen und andere können
aufgestellt werden, und Tausende von Buden können auf einem Streckenabschnitt
von 100 Kilometer Länge bewundert werden. Die Standspur dient dabei
zur jeweiligen Ein- und Abreise. Zwar geht es eng zu, aber noch immer haben
alle ihre Heimat wiedergesehen.
Patrik wird allmählich kribbelig: „Mensch Linda, kurv dich doch
endlich ein.“ Ihre strahlend hell-blauen Augen, die irgendwie besonders
stark im Kontrast zu den pechschwarzen Haaren wirken, haben ihn schon am
Start geschafft. Er, der viele Mädchen kennt, hatte es sich zuvor
nicht vorstellen können, daß ihn eine Braut mal derart beschäftigt.
Die junge Frau im Zug hat Petes indirekte Bitte, doch mal ins Inhaltsverzeichnis
zu sehen, aufgegriffen. Sie legt ihr Modejournal aufgeklappt zu ihrer Linken
auf den Tisch, ergreift das Motorfahrzeugheft und schlägt die zweite
Seite auf.
„Unglaublich schöne Finger hat sie“, sinniert Pete derweil und
blickt sie dabei wieder an. Auch ihre vollen Lippen gefallen ihm, Ihre
Figur, zumindest das, was er davon oberhalb des Tisches sehen kann, beeindruckt
ihn. „Nicht schlecht“, denkt er und beschäftigt sie weiter: „Ich glaube,
daß der Inhalt auf Seite 3 steht, aber ich kann mich auch täuschen.“
„Nein, nein“, ist ihre Replik, „das ist schon richtig. Hier steht’s.
Die Oldtimergeschichte steht auf Seite 124. Das ist etwa in der Mitte des
Heftes. Bitte, wenn Sie es selber sehen wollen.“ Mit diesen Worten reicht
sie ihm das Heft hinüber, und nun treffen sich ihrer beider Augen
erstmals für einen Moment zumindest länger.
Sie schaut interessiert, er zeigt ihr seine Zuneigung mit ganzer Augenkraft.
Sie hält ihm das Heft hinüber:“Bitte“. Und er nimmt es ihr
ab: „Danke.“
Ehe sie ihr Modeblatt wieder aufnehmen kann, was sie offenbar will,
wie Pete das registriert, spricht er sie erneut an. „Mich interessiert
das Thema alte Autos. Was halten Sie davon?“
Die Schönheit lächelt: „Natürlich interessiert mich
das auch. Sonst hätte ich das Heft ja gar nicht gekauft. Allerdings
bin ich konkret momentan mehr an Reisemobilen interessiert. Denn ich habe
in diesem Jahr noch einiges vor.“
Das Gespräch zwischen der Dame und Pete ist nun im Fließen.
Pete wüßte zu gern, was sie noch vorhat, was sie damit meint.
„Komisch“, denkt zur selben Sekunde auf dem Parkplatz bei Stuttgart
der Qutlaw, „im Grunde mag ich alles an ihr“. Und er meint damit seine
Linda-Lady. Wie sie lacht, wie sie spricht, wie sie sich bewegt, wie sie
ihre Hände hält, wie sie geht, wie sie aussieht. „Am witzigsten
ist es“, schmunzelt Patrik, „wenn sie gell sagt“.
Tatsächlich: Der Outlaw kann sich kaum kriegen, wenn Linda-Lady
ihr „gell “ haucht. Das ist jedes Mal für ihn „real ein Royal Flash“.
Bei Staus aller Schattierungen erlebt man natürlich auch Sprachengewirr
von Paderborn bis Peking, aber so ein „Gell“, wie Linda-Baby es talked,
das ist selbst für Patrik schon “strong“. Für den Outlaw ist
„strong“ eines seiner Lieblingsworte. Er wendet es fast überall und
in jeglichem Zusammenhang an: “Strong ist eben strong, man muß sich
ja nicht an alles halten, was andere für richtig believen, braucht
das gediegene Eigenleben eben. Naturally“.
Und Linda ist „shurly strong“. Selbst wenn sie auf Frage hin die Uhrzeit
sagt und „gell“ hinterdrein flötet, dann bedeutet das für Patrik
einfach „Fun“. Linda ist ein „Supergirl, ‘ne echte Mam“.Andere sagen „woll“,
„wat“ oder „watdenn“, man hört oft auch „well und andere Euro-Laute.
Aber an das „Gell“ von Linda, das oftmals mehr fragend als abschließend
gemeint klingt, kommt nach Patriks „Meaning“ nichts heran. „Das ist faszinierend“,
formuliert der Outlaw es selbst nach Altväter Sitte. „Ein unheimlich
gutes Feeling.“
Pete empfindet im Zug fast wie Patrik auf seinem Hummer. „Das Mädchen
ist spitze“, hat er sein Urteil gefällt. „Irgendwie ist das Girl noch
sehr reserviert, aber das Eis beginnt zu schmelzen“, unter diesem Blickwinkel
nimmt Pete den Gesprächsfaden wieder auf: „Aha, ich will nicht neugierig
oder aufdringlich sein. Aber es würde mich schon interessieren, was
Sie damit meinen. Können Sie noch ein paar Kohlen drauflegen?“
„Wie bitte, wie meinen Sie das?“ Die Schönheit ist leicht perplex.
Mit dieser Frage hat sie Schwierigkeiten.
Pete ergänzt und übersetzt: „Ich meine, ich würde micht
freuen, und das meinte ich mit der letzten Bemerkung mit den Kohlen, wenn
Sie mir Näheres darüber verraten würden, was Sie damit meinen,
daß Sie noch einiges vorhaben. Bitte verstehen Sie mich richtig,
Sie haben mein Interesse geweckt.“
„Wie bitte“, warum sollte ich denn ein Interesse daran haben, Ihr Interesse
zu wecken. Wie kommen Sie darauf?“
Das Gespräch ist irgendwie konfus geworden. Das große Mißverständnis
scheint ein schnelles Ende der Unterhaltung herbeizuführen. Aber Pete
berichtigt sich erneut: „Nein, nein. Tut mir leid. Sie haben mich falsch
verstanden.“
„Ich habe Sie überhaupt nicht falsch verstanden“, schlägt
sie mit Worten zurück, und Pete meint, ein gewisses gereiztes Fauchen
in der Stimme der Frau gehört zu haben. „Ich meinte“, setzt er jetzt
leicht irritiert neu an, „ich wollte doch nur sagen, daß ich
mich dumm ausgedrückt habe. Es würde mich einfach interessieren,
was Sie an den Oldtimern interessiert.“
Den gewissen Übergang zum Thema Oldtimer hält Pete für
eine gute Idee, aber die Schönheit hat den Gesprächswechsel herausgehört.
„Warum erwähnen Sie jetzt plötzlich die Oldtimer. Vorhin wollten
Sie doch auf etwas ganz anderes hinaus. Oder täusche ich mich wirklich?“.
„Nein, Sie täuschen sich nicht“, beruhigt er sie, „Ich wollte
schon mit ihnen im Gespräch bleiben. Deshalb habe ich vorhin an Ihren
Satz anzuknüpfen versucht, daß Sie noch einiges vorhaben. Sind
Sie mir böse, daß ich Sie gern näher kennenlernen möchte?“.
Die Schönheit ist über diese Offenheit von Pete gleichermaßen
verdutzt wie angetan. Sie schaut ihn an, sagt aber nichts. Bruchteile von
Sekunden scheinen ihm wie eine Ewigkeit vorzukommen. Aber es scheint ihm,
als habe er eine Hürde überwunden.
Patrik blickt ebenso nach vorn: „Gell, Linda-Baby, komm doch endlich!“,
und als ob sie es gehört hätte, rauscht die 22jährige plötzlich
heran. Patrik erkennt ihren Pick up mit der aufgesetzten Doppelkabine auf
Hunderte von Metern. Denn der tiefblaue Nissan, der auch schon über
drei Jahrzehnte unter den Rädern hat, ist von ihm selbst „goldig“
verzaubert worden. Das Auslegen von Blattgold auf der Haube ist seine Spezialität,
sein Markenzeichen quasi. Und Linda-Lady fährt mit seinem Logo.
Ein solches Auto kann niemand übersehen, das fällt einfach
auf.
„“Strong“, freut sich Patrik über sein eigenes Kunstwerk unterhalb
der alten aufgesezten VW-Kabine und der Frontscheibe, und schon ist Linda-Lady
auf die Bremse gegangen, stoppt.
Im Zug ergreift Pete erneut die Offensive: „Schlimm?“ Mit dieser Frage
erzeugt er Spannung. Und sie folgt seinem Wunsch, setzt das Gespräch
fort: „Sie sind mir schon einer. Machen Sie das immer so?“
Pete antwortet zuerst mit einem verschmitzten Lächeln. Dann setzt
einen drauf: „Ganz klar. Das mache ich immer so. Nein. Natürlich nicht.
Ich will nicht wieder was Falsches sagen. Irgendwie ist heute nicht mein
Tag.“
Sie sieht das ganz anders, korrigiert ihn freundlich: „Na, so schlimm
ist es ja wohl auch wieder nicht. Sie scheinen mir ein ganz Ausgekochter
zu sein. Oder?“
Pete kann sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er ihr den
Gesprächsball zurückwirft: „Selbstverständlich, ganz ernst
war das nicht gemeint.“ Und unter Aufbietung seines ganzen Charms macht
er ihr ein Kompliment: „Schließlich habe ich Sie getroffen. Da kann
der Tag für mich überhaupt nicht mehr schlecht werden. Oder?“
„Ich weiß nicht“, sagt sie und schaut dabei bedächtig und
fragend zu ihm hinüber. „Was habe ich damit zu tun?“
„Ich freue mich einfach, sonst nichts“, beschwichtigt er sie. „Als
ich Sie in das Abteil hineinkommen sah, habe ich mir überhaupt noch
nichts dabei gedacht.“
„Und jetzt, was denken Sie jetzt“, fragt sie.
„Nichts, wirklich nichts, was Sie beunruhigen müßte“, antwortet
er und lächelt sie an. „Wirklich“, betont er, und sie nimmt ihm das
ab. „Ja, ich glaube Ihnen das .Bitte lesen Sie doch das Heft. Ich würde
selbst auch noch gern ein paar Seiten in meinem Modeblatt anschauen.“
Pete macht scheinbar einen Rückzieher, nimmt den Gesprächsfaden
aber sofort wieder auf: „Sicher, ganz klar. Sie wollen weiterlesen. Das
verstehe ich. Mode ist irgendwie immer interessant. Oder?“
Jetzt hat er ihr Interesse geweckt: „Sie interessieren sich für
Mode?“
„Nein, eigentlich nicht“, bekennt er ihr offen, „aber ich bin Kameramann
und mußte schon einige Modeschauen aufnehmen. Insofern habe ich ein
Verhältnis dazu.“
„Aha“, nun hat die Schönheit eine Frage: „Sind Sie beim Fernsehen?“
„Ja, vorwiegend mache ich Fernsehen. Ich habe aber auch schon beim
Film mitgearbeitet. Für mich ist das immer eine Frage des Stoffes
und des Geldes. Und der Zeit natürlich.“
Die junge Frau ist nun interessiert nach vorn gerückt und blickt
ihn ohne jede Scheu oder Schüchternheit an: „Ich finde das spannend.
Können Sie mir darüber mehr erzählen?. Bitte!“
Die Grenze der Reserviertheit zwischen beiden scheint beseitigt zu
sein, und Pete läßt sich nicht zweimal bitten:
Linda und Patrik schauen sich in dem Moment auf dem Parkplatz aus der
Entfernung von vielleicht acht Metern gegenseitig an. Patrik schmunzelt,
er hat seine Sonnenbrille abgenommen und sie weit neben sich auf dem Fahrzeugdach
abgelegt. Linda lächelt im Auto. Dann winkt sie kurz, indem sie ihre
rechte Hand hebt und vier ihrer Finger mehrmals leicht nach vorn-unten
bewegt. Der Daumen bleibt dabei ruhig, wie steif und leicht abgespreizt.
Patrik erwidert die Geste, hebt seine Hand leicht und streckt einfach
alle fünf Finger nach oben, die Handfläche Linda zugewendet.
Linda dreht sich im Fahrzeug zur Seite, öffnet die Tür, springt
fast aus dem Wagen und läuft wie ein Wiesel auf den vor ihr stehenden
Hummer und auf den immer noch obenauf sitzenden Patrik zu.
Wie vom Outlaw erwartet, ist sie wie üblich ganz in dunkelbraunes
Leder gekleidet, und während ihre langen, offen getragenen Haare noch
zum Nacken und zu den Schultern hin fliegen, hat sie ihre schwarzen „high
heels“, wie Patrik das grundsätzlich ausdrückt, schon auf die
riesigen 38er Reifen geschwungen, und schwups steht sie auf der Pritsche.
Patrik hatte ihr zuvor schon die rechte Hand zum Hochklettern gereicht,
und nun liegen sich beide in den Armen.
Ein langer Kuß, eine Wiederholung, Küßchen, Küßchen
und Küßchen erneut. Tief schauen sich Linda und Patrik in die
Augen. Dann streicht er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand ganz seicht
von oben nach unten über ihre Wange, und in ihren beider Blicken liegt
alles, was Liebe ausmacht.
Linda hat währenddessen Patriks linke Hand mit ihren beiden Händen
ergriffen und streichelt seinen Handrücken. Es kommt beiden wie eine
Ewigkeit vor, ehe Patrik seine Linda-Lady mit einer Handbewegung dazu einlädt,
sich doch auch mit zu setzen. „Komm, mach es Dir bequem.“
Dann hocken beide auf dem Dach des Fahrzeugs, lassen ihre Beine zur
Pritsche hin baumeln. Und selbstverständlich muß Linda nun berichten,
warum sie so spät gekommen ist.
Patrik schaut Linda mit seinen dunkelbraunen Augen tief in die Pupillen,
und während sie seine Hände in den ihrigen hält und sanft
streichelt, küßt er sie kurz. Schmatz, schmatz, und dann folgt
ein langer Kuß. Sie legt ihre Arme über seine Schultern und
die Hände in seinen Nacken, und langsam streift sie über seine
Haut und seine Haare, die nicht ganz so dunkel sind wie ihre, aber auch
als ziemlich dunkel zu beschreiben sind.
Er drückt seine Linda-Lady fest an sich, und dann haucht sie:“Gell,
ich freu mich so. Leider konnte ich nicht früher kommen.“
Pete hat seiner ihm noch namentlich unbekannten Schönheit angeboten, einen Kaffee bestellen zu wollen, und die junge Frau hat das sofort zu einer guten Idee erklärt. Zwei Schwarze, einer mit Zucker und Sahne, sind über die Bestellung beim Kellner schon in Arbeit. Und Pete erzählt aus seinem Berufsleben als Kameramann. Sie hört gespannt zu.
Währenddessen berichtet Lind-Lady ihrem Patrik, was geschehen ist.
Ihre Erläuterung ist ganz und gar unspektakulär, beruhigt ihn
aber ungemein, weit mehr als er zu erkennen gibt. Irgendwie hatte er doch
ein bißchen Angst um sie gehabt. Unfälle passieren bekanntlich
schnell. Und ausschließen kann man bei den heutigen Verkehrsverhältnissen
nichts mehr. Aber Glück gehabt. Ihr Moped, das wie erwähnt eine
Harley ist, sei einfach nicht angesprungen. Sie habe probiert und probiert,
die Maschine ins Traben zu bringen, aber nichts erreicht. Außer:
die Batterie habe letzendlich auch noch ihren Geist aufgegeben, und dann
sei es ganz aus gewesen.
Das war inhaltlich die ganze Geschichte, die bei ihr nahezu fünf
Minuten an Redezeit in Anspruch nahm. Und während Patrik immer mal
wieder lächelte, lachte, sie zwischendurch mehrere Male auch kurz
küßte und anderswie liebkoste, zeigte sie ihm ihre ganze Ratlosigkeit,
die sie befallen hatte, als das Moped einfach gestreikt hatte. Warum wohl?
Sie wußte es nach wie vor nicht, und Patrik war ebenso hilflos. „Ich
werde mal nach schauen“, war sein einziger Kommentar, und dann küßte
er seine Linda-Lady erneut lang und heftig. Und sie wehrte sich nicht,
sondern erwiderte seine Gefühle. Er nahm dann seine dunkle Brille
und setzte diese wieder auf. Das alles geschah vor den Augen von etwa 25
bis 30 „peoples“, die amüsiert das Liebespaar auf dem Hummer auf dem
Gelände der Stuttgarter Autobahn-Raststätte beobachteten.
Von einem großen Truck aus sah ein Mann herüber, ohne daß
Linda und Patrik das bisher bemerkt hatten. Denn er stand im 90-Grad-Winkel
zu ihnen und völlig im Gegenlicht. Der Trucker konnte Linda-Lady und
Patrik zwar gut erkennen, aber sie wußten nichts von seiner Anwesenheit.
Bis er sich dann bemerkbar machte, indem er mehrere Male laut sein wirklich
unüberhörbares Horn ertönen ließ: „Tuuuuuuuut, tuuuuuuuut,
tuuuuuuuut,tuuuuuuuut“.
Das Paar auf dem Hummer drehte sich nach dem Truck um, und auch alle
anderen Parkplatzgäste waren interessiert, wer da wohl hupte, ob da
etwa etwas passiert wäre.
Pete hatte im Zug ebenfalls die ganze Aufmerksamkeit seiner schönen
Gegenüber auf sich gezogen. „Übrigens“, flickte er wie nebenbei
in seine Erzählung ein,“ich muß mich entschuldigen, ich habe
mich ja noch gar nicht vorgestellt. Verzeihen Sie. Ich heiße Peter.
Meine Feunde nennen mich Pete.“
„Angenehm“, warf sie ein. „Aber wir können uns ja ruhig duzen.
Ich schlage das vor. Ich heiße Helen. Aber erzähl’ weiter. Ich
finde das heftig, was Du schon alles erlebt hast.“
Und Pete schien bei ihr gewonnen zu haben.
Linda und Patrik wollen gemeinsam zu einem Stau-„Date“ in der ADACT-Buchungs-Zentrale
in München. Normalerweise wird alles, was mit der Vorbereitung zu
einem Stau-Event zusammenhängt, von Linda und Patrik über das
Internet abgewickelt, wie das übrigens auch alle anderen „peoples“
machen. Aber heute gibt es die Besonderheit, daß Patrik mit dem Wunsch
durchzukommen hofft, daß Linda-Lady vom Hauptveranstalter als Car
Dancerin fest mit in die Hauptfernsehsendung vom Stau-Meeting genommen
wird. Solches Begehren, das wissen Linda und Patrik aus vielerlei Erfahrungen,
muß am besten vorab abgeklärt werden.
Linda-Lady und Patrik sitzen auf ihrem Hummer und strengen sich an
zu erkennen, wer gehupt hat. Aber trotz aller Bemühungen gelingt es
ihnen nicht, den Trucker in seinem Fahrzeug zu erkennen. „Siehst Du was,
Linda?“
„Nee, ich glaube, daß der Truck dunkelrot ist. Aber genau erkennen
kann ich das nicht.“
„Ja, scheint rot zu sein. Das muß ein Auflieger sein. Kannst
Du die Nummer ausmachen?“
„Nein, kann ich nicht. Aber ein Sattelzug ist das schon. Meint der
uns überhaupt?l
„Ich weiß nicht. Auf jeden Fall hat er ne’ stronge bell. Das
Ding haut ja mit seinem Gedröhn durch Mark und Bein.“
„Das kannste sagen. Unglaublich.“
„Da guck mal, Linda, hat der nicht zwei Antennen auf der Kiste?“
„Ja, scheint so. Vielleicht eine für Funk oder Fernsehen oder
so.“
„Da, jetzt steigt der Typ aus. Siehst Du ihn?“
„Klar. Du, ist das nicht Jesus?“
„Logo, ich glaube ich spinne, das ist realy Jesus. Der Typ ist schon
irre. Wie kommt der denn hierher? Den hätte ich doch vorher schon
sehen müssen.“
„Warum?“
„Also, ich warte hier doch schon Jahre auf Dich. Der ist doch nicht
gerade erst eingetrudelt. Kapito?“
„Na klar, aber . . .“
Linda kommt nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, als ein hochaufgeschossener,
aber dennoch breitschultriger Mann mit breitrandigem Stetson auf den Hummer
zukommt.
Jetzt ist er deutlich zu erkennen, vielleicht noch 20 Meter von Linda
und Patrik entfernt. Der Mann hat dunkelbraune lange Haare, die bis über
die Schultern hinabreichen, und einen finster wirkenden, dichten Bart im
Gesicht. „Shurly, das ist Jesus, wie er leibt und lebt.“ Patrik kennt den
Trucker, dessen richtigen Namen er nicht weiß, den aber alle nur
Jesus nennen oder rufen, von verschiedenen Stau-Meetings her. Das erste
Mal, das schießt dem Outlaw durch den Kopf, hat er ihn vor Jahren
beim Great West Union in Dortmund getroffen. Oder war es beim Trucker-Event
in Köln?
„Man muß nicht alle Fragen stellen und auch nicht auf alle Fragen
Antworten geben“, dessen ist sich nun Pete sicher, der Helen munter aus
seinem Leben die tollsten Geschichten erzählt. Vieles davon ist wahr,
manches ein wenig, aber nur ein ganz wenig übertrieben und einiges
erinnert an Grimms Märchen. Aber Pete registriert, daß Helen
sprichwörtlich an seinen Lippen zu hängen scheint.
Sie unterbricht seinen Redefluß nicht, nickt hin und wieder,
lächelt zwischendurch mal an dieser oder jener Stelle und ist ansonsten
eine sehr gute Zuhörerin. „Ob sie wohl alles glaubt?“, fragt sich
Pete.
Jesus ist zwischenzeitlich bis auf zwei Meter an den Hummer herangekommen
und begrüßt Linda und Patrik mit einem leichten Heben des rechten
Arms und der Hand und mit tiefem Baß: „Hallo.“
Das Paar erwidert den Gruß mit Freude in den Augen und mit jeweiligem
leichten Kopfnicken, und Patrik ist zu hören: „Ciao, wo kommst Du
denn her?“
„Ich muß nach München und anschließend weiter nach
Wien. Ich habe hier eine kleine Pause eingelegt und ein kurzes Nickerchen
gemacht, sonst hätte ich Euch schon eher gesehen.“
„Was, Du bist schon länger hier?“
„Na sicher doch, mindestens schon eine Stunde, aber ich habe geschlafen
und habe Euch erst bemerkt, als ich vor wenigen Minuten aufgewacht bin.
Scheinbar bin ich von Eurer Küsserei wach geworden.“
„Shurly“, ist Patriks Retourkutsche. „Wir haben gedacht, der Penner
muß doch nicht immer sleepen. Kannste eigentlich noch was anderes
als schlafen?“
„Wenn hier einer ein Penner ist, dann bist Du das doch wohl“, läßt
sich Jesus nicht lumpen und macht sich daran, den Hummer zu besteigen.
„Hey, brich Dir aber nicht die Beine dabei“, frozzelt Patrik, und Linda-Lady
reicht Jesus bereits ihre Hand auch zur eigentlichen Begrüßung.
Pete und Helen haben im Zug ihren Kaffee serviert bekommen, und der
30jährige ist voll ins Reden gekommen. Ihr Interesse an seinen Erzählungen
hat bewirkt, daß Pete plötzlich nicht mehr so stark daran denkt,
sich interessant zu machen, sondern er spricht von seinen Erlebnissen als
Kameramann und braucht nicht mehr aufzuschneiden. Was er beruflich alles
erlebt hat, das kann er ganz realistisch berichten, und dieser Stoff würde
ganze Bücherbände füllen, würde Pete alles erzählen.
Pete beschränkt sich auf das Wesentliche, und diese einfache Form
der Wahrheit zeigt starke Wirkung.
Von ähnlichen Wirkungen kann Jesus sprechen, den Patrik ebenfalls
noch per Handschlag begrüßt hat. Vielleicht wird Jesus Jesus
gerufen, weil er immer die Wahrheit zu sagen scheint. Zumindest hat Patrik
ihn stets so erlebt, und offenbar scheinen andere ebenso zu empfinden.
Jesus ist ein Typ, den man einfach mögen muß.
Patrik und Linda-Lady freuen sich auf jeden Fall ehrlich, daß
Jesus bei ihnen aufgekreuzt ist.
Jesus selbst ist mehr ein schweigsamer Charakter, aber wenn er auf
Freunde trifft, dann lockert sich seine Zunge ein wenig. Was Jesus sagt,
das meint er auch, und damit sind alle bestens vertraut und bedient.
„Wo wollt Ihr denn hin?“ Patrik antwortet auf diie Frage von Jesus.
„Nach München, wir haben ein Date bei einem Sender.“
„Aha, geht’s um Dich, Linda?“ Jesus weiß um ihr Bemühen,
in eine Fernsehsendung zu kommen. Er kennt ihre Qualitäten als Car
Dancerin und schätzt sie als Kumpel, wie er sie betrachtet. Ihre Schönheit
berührt ihn, aber er versucht nicht, im Teich von Freunden im Trüben
zu fischen. Er respektiert die Tatsache, daß Patrik und Linda ein
Paar sind, ohne verheiratet zu sein.
Heute hat er eine Tour, wie er näher erzählt, die ihn noch
nach Wien und später zurück nach Köln führen wird.
Sein ständiger Beifahrer, der Pitters Jörn, ist krank, und deshalb
muß Jesus ohne seinen Co-Piloten auskommen. Das ist ganz schön
stressig, aber Jesus fährt als Selbständiger für eine Firma
und kann sich keinen Ersatzfahrer leisten.
Entsprechend hat Jesus nicht ewig Zeit zum Tratschen, und nach einem
kurzen Austausch von Neuigkeiten verabschiedet er sich von Patrik und Linda
und macht sich in seinem Truck auf den noch langen Trail
„Ciao, ciao“, Linda und Patrik winken Jesus noch lange nach, während
er erneut unter Beweis stellt, daß seine Hupe den Geist noch nicht
aufgegeben hat. Vielleicht werden sie Jesus auf dem Weg bis München
nochmals wiedersehen. Immerhin können sie wesentlich schneller als
er fahren.
Pete berichtet zur selben Zeit im immer noch mit 300 Stundenkilometern
dahinrasenden FT X2000, daß er als Kameramann vor allem bei Stau-Meetings
die schönsten Begegnungen und Erlebnisse gehabt habe. Für viele
Sender habe er schon gearbeitet. Einige Einzelheiten von Meetings muß
er natürlich Helen berichten, die sich bei seinen Erzählungen
aber selbstverständlich auch ihre eigenen Gedanken macht.
„Ein interessanter Mann“, überlegt sich Helen, während sie
sich dabei ertappt, daß sie in Gedanken auch seine Augen, seine Stirn,
sein Kinn, seine Haare, seine Finger und seine Stimme als faszinierend
empfindet.
„Ob er verheiratet ist“, fragt sich Helen und registriert es, daß
er an seinen Fingern keinerlei Ring trägt. „Vielleicht trägt
er nur keinen Ring? Wahrscheinlich hat er eine feste Freundin“, geht es
ihr durch den Kopf, während Pete erzählt und erzählt.
„1.80 Meter ungefähr wird er groß sein“, schätzt sie,
und bei einem Vergleich mit ihrer Körpergröße von 1,70
Meter wird ihr bewußt, daß er von der Größe her
gut zu ihr passen würde.
Warum sie sich in diesem Moment das alles selbst fragt oder anderes
überlegt, das kann sie sich nicht erklären. „Schon komisch, ein
netter Mann. Eigentlich ein Glück, daß er mich angesprochen
hat“, sinniert Helen und hört weiterhin zu, während sie fühlt,
daß auch ihm die Begegnung Freude bereitet: „Ob er eine Freundin
hat? Das wüßte ich schon gern.“
Für Linda und Patrik sind derzeit andere Fragen aktuell und
bewegen sie. Schon beim letzten Frankfurter Netz-Stau, der vor gut zwei
Monaten auf fast 100 Autobahnkilometern stattgefunden hatte, wollte Patrik
seine Linda ins Fernsehprogramm bringen, aber sie war schließlich
„nur“ im Radioreport eines der privaten Anbieter erwähnt worden.
Die Gelegenheit, ins TV zu kommen, war in Frankfurt ganz hervorragend
gewesen. Alles in allem hatten dort mindestens zehn Fernsehsender und über
zwanzig Radiostationen aus ganz Euroland und darüber hinaus von der
Big Performance berichtet. Viele Länder waren bei den Sendungen zugeschaltet,
und zu den über eine Million von Menschen, die sich im Frankfurt-Stau-Net
getummelt hatten, waren weiteren Millionen von Menschen an den Bildschirmen
hinzugekommen.
Linda wußte von ihrer Chance, den Durchbruch als Car Dancerin
schaffen zu können, aber was nichts war, das kann ja noch werden.
Die 22jährige ist sich ganz sicher, daß sie noch ein Star auf
ihrem Berufsweg werden wird. Im Moment aber hat sie nur Durst, und der
will gestillt werden. Linda bittet Patrik, der ebenfalls mindestens auf
etwas Trinkbares scharf ist, doch etwas zu trinken zu holen. Essen könnten
beide eventuell noch später, vielleicht bei Ulm, wie Linda meint.
Und während sich der Outlaw von der Pritsche auf den Boden und ansonsten
zum Einkaufen bemüht, schaut sie vom Wagen im Rund über das Parkplatzgelände
und beobachtet das weithin sichtbare starke Treiben.
Es ist schon interessant, woher die zahlreichen Menschen, die man bei
Raststätten antrifft, so überall herkommen. An den Nummernschildern
sind sie zu erkennen, so man den jeweiligen Buchstabensalat errät
oder um dessen Bedeutung weiß. Dazu das Sprachengewirr, die vielen
Farben. Es ist quasi ein ganz, ganz kleines Meeting der ungeplanten Art.
Die Big-Parties sind da von anderem Kaliber. Linda wundert sich jedes
Mal darüber, daß solche Großereignisse überhaupt
steuerbar sind. Und doch klappt immer alles wie am Schnürchen. Beim
Hamburg Free Track oder beim Berlin Around gab es zum Beispiel, jeweils
in das Meeting integriert, sogar Flugvorführungen, Cart-Shows, riesige
Auto- und Motorradschauen, Modevorführungen, Off-Road-Wettbewerbe
aller Art, und vieles mehr. Linda hat manchmal das Gefühl, in einer
ganz eigenen Welt zu leben. Denn zusammen mit Patrik ist sie seit nunmehr
fast einem Jahr auf Achse; nur hin und wieder sind sie getrennt und bei
unterschiedlichen Meetings.
Das alles hängt ab vom jeweiligen Engament. Linda, die in Heidenheim
auf der Schwäbischen Ostalb zur Welt gekommen ist und über Nürtingen,
eine kleinere Stadt nahe Stuttgart nach Ludwigsburg gekommen ist, wo sie
jetzt immer noch ihr erstes Zuhause hat, hat sich vor etwa zwei Jahren
dem Car Dance zugewandt, nachdem sie schon fast zwei Jahre lang mit vielerlei
Behelfsjob durch die Stau-Welt getrailed war.
Ihr Patrik, der urspünglich aus Herne stammt und nach einem kurzen
Hamburg-Aufenthalt zu einem Wahl-Berliner geworden ist, hat zwar an der
Spree offiziell seinen ersten Wohnsitz in einem Ein-Zimmer-Appartement
mit Kochnische und Dusche, aber tatsächlich ist er nun schon seit
rund zehn Jahren auf Achse. Für jeweils drei Tage in der Woche, das
ist der Normalfall, sind Linda und Patrik unterwegs bei Meetings, und während
der anderen Wochentage steuern sie neue Stau-Ziele an, haben Freizeit und
genießen ansonsten Sonne im Sommer und Schnee im Winter.
Helen schaut derweil Pete auf die Lippen, denn sie findet es amüsant,
wie er seine Geschichten vorträgt. „Ganz weiße Zähne. Schöne
Zähne. Irgendwie passen die zu ihm, auch zu seinem Teint“, denkt die
26jährige, denn so alt ist sie wirklich. Wenn sie wüßte,
daß er sie auf 25 Jahre taxiert hat, das würde sie jetzt stolz
machen.
Helen ist Reporterin beim Rundfunk und mit Sicherheit nicht auf den
Mund gefallen. Daß dieser Kameramann nun mit Erfolg Eindruck bei
ihr schinden kann, das hätte sie nicht zu träumen gewagt. Auf
alles war sie gefaßt gewesen, aber darauf nicht. Sie war selbst schon
auf zahlreichen Stau-Meetings, und manche dieser Treffs hat sie auch beruflich
kennengelernt. „Wie das Leben doch manchmal seltsame Wege geht“, denkt
sie und hört Pete im selben Augenblick vom Innsbruck White Christmas
reden, bei dem sie auch schon dreimal gewesen ist.
Helen hat das Innsbruck White Christmas jeweils sehr genossen, obwohl
sie beruflich engagiert gewesen war. Sie denkt gern daran zurück.
Schon im Vorfeld einer Großveranstaltung hatte sie die Ankündigungs-
und Werbeberichterstattung übernommen und in ihrem damaligen Sender
Antenne Radio Dresden auch Teile von Polen und der Tschechei erreicht.
Mit großer Begeisterung hatte sie ihre privaten Kenntnisse von
vorangegangenen Innsbruck-White-Christmas-Surrounds einbringen können,
und wenn sie im Radio über die Millionen von Menschen sprach, die
solche Stau-Meetings in irgendeiner Form verfolgen, dann hatte sie fast
immer einen Kloß im Hals stecken. Zumindest fühlte sie so.
Schon die zahlreichen Vorbereitungssendungen waren immer mit großer
Konzentration verbunden. Tagtäglich wurde morgens, mittags, spätnachmitags,
abends und spätabends sowie selbstverständlich auch zu mehreren
Terminen in der Nacht über dieses anstehende Treffen berichtet, und
Helen war sich immer im klaren darüber, daß zusammen mit ihr
mindestens zwei dutzend weitere Radiostationen allein im östlichen
Teil Deutschlands um die Zuhörerschaft wetteiferten und über
dasselbe Thema Sendungen ausstrahlten. Allein über 15 Stationen in
ganz Deutschland waren auschließlich damit beschäftigt, über
befahrbare Routen, über konkrete kleinere Staus und über Transport-Möglichkeiten
auf der Schiene zu berichten.
Der Trubel beim Innsbruck White Christmas selbst war stets fast unbeschreiblich.
Selbstredend fand das alles um die Weihnachtszeit statt, und sämtliche
Autobahnen bei Innsbruck standen dabei zur Verfügung. Bis weit hinein
nach Italien reichte das Stau-Meeting, und auf dem Brenner war der Bär
los, obwohl es dort seit langem schon keine Bären mehr gab. Helen
erinnert sich noch gut an eine schöne Geschichte mit ihrem Wohnwagen.
Linda-Lady schwelgt in ganz anderen, wenn auch ähnlichen Gedanken.
„Was ist mit Patrik. Der wollte doch nur etwas zu trinken holen. Ob er
sich auf dem Parkplatz verirrt hat?“ Linda küßt Patrik in Gedanken,
als sie ihr erstes Zusammentreffen remembered. Sicherlich, am Kamener Kreuz
beim Big-Stau hatte sie ihn angesprochen, aber gesehen hatte sie ihn bereits
fast ein Jahr zuvor beim Bajuwarian-Stau. Der Schmusebär, wie sie
ihn liebevoll machmal nannte, hatte sie aber überhaupt nicht registriert.
Und dabei hatte sie sich soviel Mühe gegeben, um speziell ihm aufzufallen.
Ihr hatte er sofort gefallen, als sie ihn first blickte, seine Stimme
hörte und bei seinem unnachahmlichen Gang irgendwie einen Kollaps
bekommen hatte. Das Herz raste, am Hals verspürte sie ein Pulsieren,
als wollten die Adern platzen, und plötzlich hatte sie ganz wacklige
Knie beim Tanzen. Denn Linda-Baby war zu dem Zeitpunkt ganz Linda-Lady
und mittendrin in ihrer Car-Dancing-Kür gewesen.
Der Hauptverstalter hatte da so einen Wettbewerb ausgerufen, in dem
von rund 30 Mädchen zum Schluß drei übrigblieben und in
der Endrunde gegeneinander auf drei verschiedenen Cars antreten mußten.
Linda mußte ihr ganzes Können im Bewerb mit einer langbeinigen,
blonden Polin und einer dunkelhäutigen, rassigen Brasilianerin zeigen.
Per Losentscheid tanzte Linda auf einem alten dunkelblauen Aston Martin
V8 Volante, der Polin hatte man eine knallrote Dodge Viper aus Uraltzeiten
zugewiesen und die Brasilianerin hatte die Aufgabe zu meistern, sich auf
einem sonnengelben Lamborghini Diablo Roadster SV zurechtzufinden. Der
war übrigens auch schon mindestens 30 Jahre alt, aber wie die anderen
auch bestens erhalten.
Eine effektvolle, durchgehend am Rhythmus orientierte Kür auf
derartigen Rasse-Schlitten zu dancen, ist nicht immer ganz einfach. Linda
weiß das zur Genüge. Der italienische Lamborghini zum Beispiel
hat den Nachteil, beim Übergang von der Haube auf die Lederpolsterung
nur äußerst wenig Platz zu bieten. Mit einem Handstand-Überschlag
von der Windschutzscheibe oder einem Salto sind die Tänzerinnen ziemlich
der Gefahr ausgesetzt, das Gleichgewicht zu verlieren. Leicht stößt
man dabei hier oder dort an, und auch größtes artistisches Können
rettet die letzendlich flüssig angelegte Darbietung dann nicht mehr.
Sicherlich, der 530-PS-Bolide mit seiner 5,7-Liter-Maschine ist
eine Augenweide an sich, aber der Dancerin bringt das wenig. Sie muß
sich geradezu gegen die Technik durchsetzen. 320 Stundenkilometer Höchstgeschwindkeit
sind für den Wagen nichts, aber die Tänzerin muß ihre Zuschauerschaft
auf dem Wagen quasi mit 500 Sachen von null auf hundert bringen. Und das
ist manchmal schon echt schwierig, auch wenn alles so
leicht aussieht.
Linda hat auch schon auf der amerikanischen Viper R/T 10 „geturnt“,
wie Patrik das meistens bezeichnet, aber das reine Zuckerschlecken ist
das auch nicht. Das zweisitzige Muscle Car hat zwar einen acht Liter großen
Zehnzylindermotor mit 450 PS, aber am Innenraum haben die Sportwagen-Konstrukteure
gespart. Für das Tanzen ist der Traumrenner eigentlich nicht geschaffen,
auch wenn auf der Haube und auf dem Heckteil schöne Kürelemente
möglich sind.
Der britische Aston Martin Volante bietet im Vergleich zu den Wagen,
auf denen Lindas Konkurentinnen glänzen wollten, zwar aufgrund des
wesentlich größeren, für vier Personen fast doppelt so
bequem ausgelegten Innenraums mehrere Vorteile, aber manchmal ist es einfach
wie verhext, man kann das nicht voll nutzen. Linda hatte das V8-Cabrio
mit seinem 5,3 -Liter-Motor und den 349 PS einschließlich der Gäste
zwar anfangs auf der schönen langen Haube voll im Griff, aber nach
einem ebenfalls phantastisch gelungenen Übergang in den Innenraum
verhedderte sie sich beim Wechsel auf das Heckteil im leicht aus dem Wagen
nach oben herausschauenden zusammengeklappten Faltdach. Ihr Fuß fand
keinen richtigen Halt, und schwups-radibubs war auch das Feeling für
den Bruchteil einer Sekunde gestört, und damit war der Sieg trotz
einer ansonsten riesigen Kür futsch.
Es siegte die Brasilianerin vor Linda und der Polin, die aber ebenfalls
tänzerische Klasse bewiesen hatte.
Linda erinnert sich nur zu gut daran: Ihren Patrik mit seiner schlanken,
sportlichen Figur und 1,85 Metern Größe erspähte sie, als
er sich als erfolgreicher Rosen-Verkäufer einen Weg durch die Zuschauermenge
bahnte. Zum Glück hatte sie ihren Patzer mit dem Cabrio-Verdeck schon
hinter sich gehabt und „turnte“ die Schlußelemente. Was hätte
sie wohl empfunden, wenn er ursächlich für ihren Ausrutscher
geworden wäre? Immerhin hatte sie ganz schön damit zu kämpfen,
bei seinem Anblick ihre volle Konzentration aufrecht zu erhalten. Mit wackligen
Beinen ist allenfalls noch ein Spagat möglich, aber zur Pirouette
reichts es dann nicht mehr.
Daß Patrik sie auf dem Fahrzeug nicht einmal wahrgenommen hatte,
wie er ihr viele Monate später kühl erzählte, das ärgerte
sie schon ein wenig. „Wenigstens ein Auge hätte er doch mal auf mich
werfen können.“ Aber was nicht war, bleibt wahr, wenn man Patrik glaubt,
der übrigens gerade mit einer Limo zurückkommt und diese zu Linda
auf den Hummer hochreicht.
„Danke“, sagt Linda und lächelt ihren Patrik an. Dann küßt
sie ihn zur Belohnung, küßt ihn nochmals und nochmals. Sie trinkt,
während er es sich wieder beqem auf dem Dach macht. „Wir haben noch
viel Zeit, mach’ langsam“. Bei diesen Worten mustert er seine Linda-Lady.
„Es war unglaublich voll beim Shopping, real strong. Ich habe meine Cola
gleich ausgetrunken, mein Durst war riesig. Aber sag’ mal, was hast Du
in der Zwischenzeit gemacht? Hast Du nachgedacht, wie wir die Sache in
München angehen?“.
„Nein, habe ich nicht. Ich habe an Dich gedacht. Daß Du mich
damals beim Bajuwarian-Stau nicht gesehen hast. War das wirklich so?“
Patrik lacht irgendwie ungläubig auf, schüttelt den Kopf.
„Also wirklich, fängst Du wieder mit der alten Geschichte an. Real,
ich hab’ Dich nicht gesehen. Du wärst mir doch aufgefallen. Aber ich
war einfach zu beschäftigt. Meinst Du, Rosenverkaufen ist der reine
Spaß? Das ist ein harter Job. Ganz schön strong manchmal, wenn
keiner kaufen will. So Tage gibt es. Ehrlich. Zum Glück nur selten.“
Patrik ist jetzt zwangsläufig in seinem Element. Denn er weiß:
Hat Linda einmal den Eindruck, warum und weshalb auch immer, daß
er sie doch geblickt haben könnte, dann läßt sie mit ihren
bohrenden und gleichzeitig anklagenden Fragen nicht mehr locker. Dann wird
nachgehakt und nachgehakt, und wer Linda kennt, weiß, wozu sie fähig
ist.
Der Outlaw will sich das nicht antun, und deshalb ergreift er nun voll
die Erzählinitiative: „Du Linda, Du bringst mich auf eine Idee. Ich
könnte doch bei den nächsten Staus auch mal wieder Blumen verkaufen.
Das mit den Rosen, das lief damals doch bestens. Irgendwie bin ich davon
abgekommen. Aber ich glaube, daß das ein Fehler war. Strong, daß
Du mich jetzt darauf bringst. Gerade noch rechtzeitig. Meinst Du nicht
auch?“
Helen und Pete stellen im Zug wechselseitig fest, daß sie sich
enorm viel zu sagen haben. Sie trinken schon ihren jeweils dritten Kaffee,
er diesen schwarz, sie mit Milch und Zucker. Pete hat den Innsbruck White
Christmas jeweils aus der Perspektive des Kameramannes gesehen, und Helen
ist erstaunt, welche Blickwinkel sich ihm dabei aufgetan haben. Als Radiosprecherin
hatte sie ganz andere Erlebnisse.
„Diese Bergwelt ist schon phantastisch“, schwelgt Pete in seinen Erinnerungen.
„Im Sommer hatte ich schon die herrlichsten Motive, aber meineserachtens
übertrifft das winterliche Panorama alles, was ich bisher vor der
Linse hatte. Im Schnee ist alles noch heller, fast wie mit Zucker übergossen.
Ich habe wirklich die tollsten Bilder eingefangen. Für mich ist der
Innsbruck White Christmas allein schon deshalb der faszinierendste Stau
überhaupt. Von der besonderen Atmosphäre über Weihnachten
abgesehen. Wirklich, das kannst Du mir glauben. Ich meine das auch so.
Ich übertreibe nicht. Du schaust irgendwie so fragend. Nimmst Du mir
das nicht ab, Helen?“
Linda-Lady ist mit ihren 22 Lebensjahren ebenso lebensbejahend wie aber
auch irgendwie abgeklärt. Streß ist für sie ein Fremdwort.
Sie nimmt das Leben wie es kommt. Das ist ihre Maxime: „Immer relax bleiben“,
Linda mahnt nicht nur häufig dazu, sie lebt es auch vor. Entsprechend
ist ihre Antwort auf Patriks Frage: „Warum machst Du Dir schon jetzt den
Kopf heiß. Warte doch erst mal ab. Wir können uns das immer
noch überlegen. Bis München sehen wir schon weiter. Gell.“
Patrik grinst, als Linda das sagt, und innerlich ist er stolz auf seine
Lady: „Das macht ihre Klasse aus, sie ist einfach cool, strong diese Frau.“
Aber Patrik weiß auch, daß Linda-Baby ungeheuer gespannt darauf
ist, ob sie ins Fernsehen kommt oder ob die Typen ihren Auftritt erneut
ins Nirgendwo oder ganz ins Abseits verschieben. Denn ihr Ehrgeiz ist ebenso
groß wie ihre Fähigkeit, die Dinge auf sich zukommen zu lassen.
„Meinst Du nicht, Linda, daß wir uns jetzt bald nach München
einfädeln sollten. Ich bin schon einigermaßen wild darauf. Hier
in der Hitze kriege ich noch den Koller. Really. Schließ’ doch deinen
Wagen ab und laß’ ihn stehen. Wir fahren mit dem Hummer weiter. Auf
dem Rückweg holen wir Deine Kiste dann wieder ab. Was hältst
Du von dem Vorschlag?“
Linda-Baby wäre nicht auch Linda-Lady, wenn sie die Vorteile dieser
Anregung nicht sofort erkennen würde. „Logo“, ist ihre Meinung, und
schon ist sie auf dem Weg zu ihrem Wagen. Das Einparken und das Abschließen
des Fahrzeugs sind eins, und im Nu ist Linda zurück bei Patrik, zur
Abfahrt nach München bereit.